Da steht das Ehinger Tor. Groß wirkt es, alt und ehrwürdig, ein steinerner Teil der Ulmer Bundesfestung, versehen mit Türmchen und Zinnen – und in seinem Windschatten wuchert das Leben. Busse rollen im Minutentakt an. Sie zischen, spülen Fahrgäste hinaus auf die Straße und sammeln die nächsten im selben Atemzug mit ein. Aus- und eingestiegen wird im schnellstmöglichen Rhythmus – der Aufenthalt an diesem Busbahnhof soll doch bitte nur kurz dauern. Hektik? Ungeduld? Ein Blick auf die Uhr? Genau das will eine Gruppe von Künstlern ändern. Menschen sollen an diesem Ort hängen bleiben, Kultur erleben und diskutieren. Fünf Kreative aus der Region haben sich zusammengefunden, um hier eine Galerie für moderne, zeitgenössische Kunst zu schaffen. In einem kleinen Häuschen. Inmitten der Busstation. „Wir gründen hier eine Produzentengalerie. Das ist für Ulm ein einmaliges, ganz neues Projekt“, erklärt Reinhard Köhler, der Initiator des Projekts. Mit einer Vernissage am 21. Juni wollen die Galeristen ihren „Kunstpool“ einweihen. Das Motto der Ausstellung: „Auftauchen“ – was aber zu sehen sein wird, hält das Kollektiv aber noch geheim.
Fünf Künstler eröffnen eine Galerie am Ehinger Tor
Jeder steuert seinen Stil in diesem Projekt bei: Reinhard Köhler ist bekannt als Musiker, Veranstalter und Kreativer in allen Bereichen. Freya Blösl ist Malerin, experimentiert auch mit Fotografien und Objekten. Andrea Tiebel-Quast mischt die Kunstformen in politischen, kritischen Installationen. Aus Erinnerungsstücken bastelt Heike Sauer gewitzten „Kunstkitsch“, der zuletzt im Stadthaus zu sehen war. Dorothea Grathwohl nimmt Stoffe und Themen, die mit viel Bedeutung, Kult oder Verehrung beladen sind – und verformt sie mit Ironie. Als das Gebäude am Ehinger Tor frei wurde, fanden sie alle zusammen.
Etwas geduckt und unauffällig wirkt das Gebäude, das jetzt noch eine Baustelle ist. „Aus der Ferne sieht es aus wie eine Eidechse“, findet Grathwohl. Andererseits wirkt es fast modern, wenn man es betritt, mit Stahlträgern und hohen, schmalen Fenstern, über den Köpfen der Besucher. Früher war das Häuschen ein Aufenthaltsraum. Andere erinnern sich an diesen Bau, weil sie einst beim Schwarzfahren erwischt wurden und hier, am Schalter, ihr Bußgeld zahlen mussten – so erzählt es Köhler. Plätze wie diese, Haltestellen und Busbahnhöfe, gelten eher als schmuddelige, ungemütliche Orte. Oder auch „Unorte“, wie Köhler sagt. Aber genau das reizt die Gruppe. Nicht jeder, der an diesem Platz strandet, interessiert sich für Kunst. Doch gerade diejenigen, die keinen Kontakt zur Szenen der Galerien und Museen haben, wollen die fünf in den Kunstpool locken.
Künstler bauen und basteln am Busbahnhof
Die Kultur nimmt jetzt noch ein bisschen mehr Platz am Ehinger Tor ein: Gegenüber der Galerie steht ein runder Pavillon, darin befindet sich eine kleine Bibliothek mit vollen Regalen, zum Stöbern, Lesen und Tauschen. „Das ist ein gutes Signal dafür, dass ein Umdenken geschieht“, sagt Reinhard Köhler – ein Signal für mehr Kunst und Lebensqualität im öffentlichen Raum.
„In den vergangenen Wochen waren wir alle mehr Handwerker als Künstler“, erklärt Blösl. Sie mussten eine ehemalige Bahnhof-Toilette Galerie-tauglich schrubben, sich als Heizungsinstallateure üben und Zwischenwände einreißen. Was bleibt, sind die weißen Wände, die grauen Kacheln und das Skelett des Grundgerüsts. Die wenigen Quadratmeter des Ausstellungsraums will das Künstler-Quintett nicht nur für sich selbst nutzen. Einzelausstellungen sind zwar geplant, aber nicht Kern des Programms. Andere Künstler sollen hier Platz finden, mit einem Wettbewerb wollen sie die Ausstellungsfläche in ihrem Kunstraum vergeben. Aktion, Malerei, Performance, Musik im Kleinformat – im Idealfall sollen sich die Kunstformen hier verbinden und vermengen.
Der Kunstpool am Ehinger Tor gibt sich gesellschaftskritisch
Ein einziges Bild haben die fünf schon im Raum platziert, ein Porträt von Angela Merkel, dekoriert mit Friedenstaube und Patronengurt. Diese bissige Satire ist kein Ausstellungsstück, aber zumindest ein kleiner, zugespitzter Fingerzeig, dass die Kunst der Gruppe auch politisch und gesellschaftskritisch gedacht ist. Grathwohl betont, dass es ihnen auch um den Mut gehe, mit Kunst Stellung zu beziehen. Eine Aktion haben sie fest geplant: Die Charta der Menschenrechte wollen sie am Busbahnhof verteilen, als Mahnung, Aufruf und kritische Frage.
Die Stadtwerke Ulm haben der Gruppe den Bau gegen eine kleine Pauschale zur Verfügung gestellt, auch die AG West unterstützt den Umbau. Doch die Künstler haften mit diesem Projekt selbst und hoffen auf weitere Sponsoren, vielleicht auch irgendwann auf Förderung durch Kommune und Land. Eine Galerie zu eröffnen, ist immer ein Risiko. Und jetzt, in der Zeit der Kontaktbeschränkungen und geschlossenen Kunststätten? „Kunst und Kultur gehören zum Leben, sie sind unverzichtbar“, sagt Köhler. „Die Schaffung der Galerie wurde vor der Corona-Krise beschlossen, und es gibt in der Krise keinerlei Veranlassung, diese Pläne fallen zu lassen.“ Sich ins Internet zu flüchten, weil alle Galerien und Museen schließen? Das scheint keine Option für Köhler. „Wir sind Künstler. Und Kunst braucht den kommunikativen Prozess, Kunst musst also sichtbar sein, sinnlich erfahrbar. Und zwar unmittelbar, nicht über irgendwelche digitale Krücken. Vor dem Originalwerk im Museum zu stehen, ist einfach etwas völlig anderes als ein Foto des Werks im Internet zu betrachten.“
Infos zur neuen Galerie am Ehinger Tor finden sich im Internet unter www.facebook.com/kunstpool.
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