Gegen 20.30 Uhr schiebt sich Oberbürgermeister Gunter Czisch an den schwarz uniformierten Einsatzkräften vorbei und klopft einem jungen Mann auf die Schulter. "Dankeschön, ein Kompliment, ich bin richtig stolz auf euch", sagt er zu dem Studenten, der die Kundgebung organisiert hat. Die Kuhglocken und Trillerpfeifen des "Corona-Spaziergangs" sind da schon zu hören, von der Neuen Mitte aus schlängelt sich ein Demonstrationszug auf den Münsterplatz. Wenig später trennen nur noch zwei Polizei-Reihen die beiden Teile der Gesellschaft. Und beide Seiten rufen: "Nazis raus."
Zwischen 500 und 800 Menschen sind gekommen, um sich all jenen entgegenzustellen, die auf sogenannten "Spaziergängen" gegen die Corona-Maßnahmen demonstrieren. Viele Male schon haben sich Gegnerinnen und Gegner von Impfungen und Schutzvorkehrungen im Internet verabredet und sind durch Ulm gezogen. Nun haben zwei Medizinstudenten eine Gegen-Kundgebung auf die Beine gestellt. Ganz kurzfristig. Die Rednerinnen und Redner sind schlecht zu verstehen, der kleine Lautsprecher reicht nicht aus. "Am Mittwoch waren wir noch zu zweit, heute sind wir ein paar hundert", ruft der Organisator und verspricht, sich fürs nächste Mal um bessere Technik zu kümmern.
Auch Vertreter aus Kirchen und Politik demonstrieren auf dem Münsterplatz
Auch wenn nicht jedes Wort zu verstehen ist: Auf den Plakaten ist zu lesen, was die Menschen hierher treibt. "Impfen jetzt", steht da. Oder "Niemand erklärt einem Piloten das Fliegen. Warum dann den Ärzten die Medizin?" Man wolle den "Spaziergängern" nicht den öffentlichen Raum überlassen, ruft der Organisator der Demo. Sein Name soll nicht in die Öffentlichkeit, er hat Sorge vor Anfeindungen oder Übergriffen.
Der evangelische Dekan Ernst-Wilhelm Gohl ist gekommen, auch Stadträtinnen und Stadträte aus Ulm. Grünen-Fraktionssprecher Richard Böker nennt die Kundgebung auf dem südlichen Münsterplatz "unbedingt wichtig". Martin Ansbacher (SPD) sagt: "Wir möchten Flagge zeigen für die richtige Seite." Er wiederholt, was seine Fraktion bereits gefordert hat: Dass die Stadt die "Spaziergänge" nicht einfach so hinnehmen, sondern mit einer Allgemeinverfügung dagegen vorgehen solle. OB Czisch (CDU) dagegen meint: "Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut." Solange es friedlich bleibe, dulde man das – auch wenn die "Spaziergänge" nicht wie vorgeschrieben angemeldet seien. Czisch dankt der Polizei, die allein rund ums Münster mit mindestens 100 Beamtinnen und Beamten vertreten ist. Eine Reiterstaffel ist unterwegs, Polizeihunde bellen auf dem Münsterplatz, mindestens zwei Dutzend Mannschaftswagen und zahlreiche Streifenwagen stehen im Zentrum der Stadt. "Es ist gut, dass die Leute hier sind und ihre Meinung sagen. Ich bin auf jeden stolz, der hierherkommt und ein starkes Zeichen der Bürgergesellschaft leistet", sagt der Oberbürgermeister.
Ulms OB Czisch spricht mit "Corona-Spaziergängern"
Czisch hat auch Gespräche mit "Spaziergängern" geführt, genauso wie Dekan Gohl. Die haben sich gegen 19 Uhr auf dem Münsterplatz getroffen. Sie haben Grablichter dabei und Alkohol, Trommeln, Kuhglocken, Trillerpfeifen und Vuvuzelas. Anfangs herrscht bei manchen Leuten Verwirrung, welcher Gruppe sie sich anschließen wollen. Die Polizei hilft und schickt die Frauen und Männer dorthin, wo sie sich aufgehoben fühlen. Am südlichen Münsterplatz beginnt die Kundgebung mit Hinweisen zu den Verhaltensregeln. Wenige Meter weiter setzt sich der Zug der "Spaziergänger" in Bewegung, zunächst in die Hirschstraße. Dann geht über die Wengengasse zur Olgastraße, über die Münchner Straße nach Neu-Ulm, dort die Augsburger Straße entlang und schließlich via Frauenstraße, Rosengasse, Hafenbad und Neue Mitte zurück vors Stadthaus. "Bislang alles friedlich. Aber halt ein Verkehrschaos", sagt ein Polizist am Straßenrand. Die Stimmung auf dem "Spaziergang" gleicht einem Faschingsumzug.
Auf dem südlichen Münsterplatz darf jeder ans Mikrofon, der eine Botschaft loswerden möchte. Der Ulmer Kulturmanager Peter Langer kündigt an, dass am kommenden Samstag, 22. Januar, eine Menschenkette vom Münsterplatz bis zum Neu-Ulmer Rathaus gebildet werden soll. "Ja zu Solidarität, nein zu Hetze", ruft Langer. Ein älterer Mann berichtet, dass er zum ersten Mal in seinem Leben demonstriert. Ein Impfarzt betont, wie wichtig die Vakzine im Kampf gegen das Virus sind, eine junge Frau prangert an, dass Rechtsradikale an den "Spaziergängen" teilnehmen. Abseits des Mikrofons berichten andere, warum sie gekommen sind.
Menschen aus dem Kreis Neu-Ulm sind wütend auf Querdenker
Johannes Hiller aus Thalfingen hatte andere Pläne für den Abend. Erst am Freitagnachmittag hörte er von der Kundgebung. Er sagte seine Verabredung ab, stieg aufs Rad und kam nach Ulm. "Wir müssen zeigen, dass wir die Mehrheit sind und dass es darauf ankommt, auf die Erkenntnisse aus Medizin und Wissenschaft zu hören." Renate Rockenmaier aus Illertissen ist wütend über "Spaziergänger" und Querdenker. Über gelbe Sterne mit der Aufschrift "ungeimpft". Sie will für die Demokratie auf die Straße gehen, gemeinsam mit ihrem Mann Klaus. "Wir hoffen, dass das erst der Anfang ist", sagt der über die Kundgebung. Und später am Abend verkündet der Organisator: Wenn es am Montag wieder einen "Spaziergang" geben soll, wollen auch die Gegner dieser Gruppe wieder demonstrieren. Die Stadt genehmigt die erneute Kundgebung noch am Abend.
Auf 500 bis 800 Menschen schätzt Bürgerdienste-Chef Rainer Türke die Teilnehmerzahl auf der Kundgebung. Am "Spaziergang" hätten sich etwa 2000 Menschen beteiligt. Auch dieses Mal sollen mutmaßliche "Rädelsführer" ermittelt und von der Polizei kontrolliert worden sein. Weitere Angaben sollen spätestens am Montag folgen.
Um kurz nach 20.30 Uhr stehen sich die beiden Seiten auf dem Münsterplatz gegenüber. Sie skandieren Parolen, die Stimmung ist angespannt. Doch es bleibt friedlich. Eine halbe Stunde später lösen sich "Spaziergang" und Gegendemo auf. Die Gegendemonstranten beweisen längeren Atem. Ein letztes Lied tönt aus ihrer Lautsprecherbox: "We are the Champions" von Queen.