In Stunde fünf macht sich langsam ein gewisser Schwund an Publikum bemerkbar. Mehr als vier Stunden lang – inklusive einer halben Stunde Pause – dreht Hagen Rether im Ulmer Roxy nun schon die großen Themen dieser Welt durch den Fleischwolf, und er hat noch einiges mehr zu sagen und vor allem muss er noch ein klein wenig Klavier spielen, was er bis dahin noch gar nicht getan hat. Erst nach viereinviertel Stunden verabschiedet er sich unter großem Applaus von der Bühne – mit einem Merkel-Zitat.
Hagen Rether dreht am ganz großen Rad
Wer Rether zuhören will, muss einerseits gutes Sitzfleisch mitbringen und andererseits über ein gewisses Stehvermögen verfügen, das allerdings nicht im körperlichen, sondern im geistigen Sinne, denn der Kabarettist arbeitet sich nicht am Kleinklein der Tagespolitik ab, sondern dreht Stunde um Stunde am ganz großen Rad der Zeitläufte und mutet seinen Fans gerne unbequeme Wahrheiten zu. Er lässt zwar viel Raum für grüne Gesinnungskuschelei, doch er fordert von seinem Publikum auch etwas, nämlich selbst etwas zu tun.
Im munteren Plauderton trägt er seinen Globalrundumschlag vor, was auch nach drei Stunden nicht langweilig wird, wobei man sich gegen Ende zuweilen denkt: Okay, ich hab‘s verstanden, du musst nicht noch mal damit anfangen. Reher räsoniert ausführlich über die Ungerechtigkeit der Welt und speziell der deutschen Gesellschaft, in der sich das Geld munter oben sammelt, während es unten immer mehr Menschen fehlt: „Wir haben doch keine Not, wir haben‘s nur so scheiße verteilt.“ Sein großes Thema ist neben Sexismus, den patriarchalischen Strukturen oder der aufkeimenden Lust am Autoritären vor allem der Klimawandel, der die Menschen nicht davon abhält, ihre planetenschädlichen Gewohnheiten weiterhin zu pflegen. Daran arbeitet er sich lange und intensiv ab. Rether korrigiert die alte Erkenntnis des einstigen US-Präsidenten Bill Clinton, wonach sich Wahlen nur mit guter Wirtschaftspolitik gewinnen lassen (“It‘s the economy, stupid!“) in die weitaus globalere Maxime „It‘s the ecology, stupid!“, es geht um die Ökologie, du Dummkopf.
Rether: Heute ist es schlimmer als in Weimar
Dass die Rechten einmal die Welt retten, glaubt er nicht, denn es werde doch nichts besser, wenn man die wähle. Wenn die heutige Zeit mit der Weimarer Republik und dem Heraufziehen der Nazidiktatur verglichen werde, so findet Rether die aktuelle Situation schlimmer: „Die wussten ja damals nicht, was passieren würde.“ Ohnehin vermisst er bei den Menschen die Vernunft. Für ihn gehört dazu, vegan zu leben und nicht den „Planeten wegzugrillen“. Er selbst lebt bereits seit 14 Jahren ohne tierische Produkte, wie er sagt. Wenn er das auch seinem Publikum nahelegt, so kommt er jedoch nicht als einer daher, der die Dinge von oben verordnen möchte, sondern fordert jeden einzelnen auf, sich zu entscheiden, selbst etwas zu tun und nicht zu resignieren.
Am Ende verbreitet Hagen Rether doch noch Hoffnung
Das könnte man zuweilen schon. Vor allem gegen Ende wird sein Vortrag zu einem Mahlstrom an deprimierenden Zustandsbeschreibungen. Man ist schon geneigt, mit hängendem Kopf aus dem Saal zu schleichen. Doch dann erwähnt er ein Beispiel, aus dem sich trotz aller Schwärze noch Hoffnung ziehen lässt: Dass Überlebende des Holocaust auch nach 80 Jahren noch in deutsche Schulen gehen und aufklären. Trotz alledem. Während Rether von der Bühne abgeht, sagt er in den allgemeinen, fast hektischen Aufbruch hinein einen Satz, der weitgehend untergegangen sein dürfte: „Wir schaffen das.“
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