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Ulm: Diagnose Multiple Sklerose: Der Tag, als eine Krankheit ihr Leben auf den Kopf stellte

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Diagnose Multiple Sklerose: Der Tag, als eine Krankheit ihr Leben auf den Kopf stellte

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    Lena Schiele war 18, als bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert wurde. Eine App aus Ulm hilft ihr beim Umgang mit der unheilbaren Krankheit.
    Lena Schiele war 18, als bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert wurde. Eine App aus Ulm hilft ihr beim Umgang mit der unheilbaren Krankheit. Foto: Alexander Kaya

    Lena Schiele ist ihre Krankheit nicht anzusehen. Sie strahlt eine ansteckende Fröhlichkeit aus. Über ihre Schmerzen und den täglichen Kampf gegen die Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose spricht die 21-Jährige mit einer entwaffnenden Offenheit - vielleicht mit der Grund, warum sie einer Ulmer Firma mithilft, die erste App auf Rezept aus der Donaustadt zu entwickeln.

    Die heutige Industriekauffrau Lena Schiele war mitten in der Ausbildung, als es 2019 geschah: Es war ein Freitag, so viel weiß sie noch, als sie plötzlich nur noch Punkte sah. Am Montag darauf war es kaum besser. "Ich hatte dazu extreme Kopfschmerzen." Ihre ersten Gedanken kreisten nur um ihre neue Brille: "Kann es sein, dass die schuld ist?" Nein, ein Augenarzt stellte fest, dass nur noch 20 Prozent der Sehkraft da sind. Mit der Brille habe das nichts zu tun. An etwas wirklich Ernstes wie Multiple Sklerose dachte die Aalenerin da nicht. Als die damals 18-Jährige dann in das Ulmer Universitätsklinikum von extrem besorgt wirkenden Ärzten sechs Stunden am Stück ohne jegliche Wartezeiten untersucht wurde, habe sie langsam Angst bekommen. "Sterbe ich?", sei eine von vielen Fragen, die der jungen Frau durch das Gehirn jagten.

    Genau dieses sehe aus "wie ein Christbaum" hätte ein Neurologe dann nach der Magnetresonanztomografie (MRT) gesagt. Schuld seien die zahlreichen Entzündungen im Gehirn, die auf dem Bild durch das verabreichte Kontrastmittel aussehen wie Lichtpunkte. Mit dem Rollstuhl wurde die junge Frau durch die Gänge geschoben. "Es war surreal." Denn kurz zuvor habe sich Schiele noch "pumperlgesund" gefühlt. Erst im Nachhinein recherchierte die junge Frau, dass es schon zuvor Krankheitsschübe gegeben haben muss. Etwa im Sommer 2018, als plötzlich ihr Bein wie gelähmt gewesen sei. Vom Besuch im Freibad habe sie sich damals davon aber trotzdem nicht abhalten lassen.

    Multiple Sklerose - die Krankheit mit den 1000 Gesichtern

    Untersucht wurde viel in Ulm, doch die einzige Möglichkeit, eine Multiple Sklerose, die "Krankheit mit 1000 Gesichtern", zweifelsfrei zu diagnostizieren ist eine Entnahme des Nervenwassers aus dem Rückenmark. Der Eintrag im "Lexikon des Körpers" war eindeutig. "Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren soll", sagt die lebenslustige junge Frau im Rückblick auf den Tag, der ihr Leben veränderte. Zunächst habe sie ganz kurzfristig gedacht: Im Rahmen ihrer Ausbildung stand eine Art Austausch nach England kurz bevor. "Da habe ich mich so darauf gefreut."

    Bevor ein Arzt mit ihr ausführlich sprechen konnte, googelte sie erstmal die Krankheit. Wie üblich, in solchen Fällen. Das Ergebnis: Desinformation statt Information. Denn das Internet habe die schlimmsten Verläufe oft oben im Ranking. Der Tenor: in zwei Jahren im Rollstuhl, in vier Jahren tot. Über Umwege gelangte Schiele nach der Diagnose und einer Kortison-Therapie wieder an der Ulmer Universitätsklinik. Eine Medikamenten-Therapie wurde für sie "eingestellt". Die Sehkraft kam wieder - nach England zum Austausch konnte die junge Auszubildende fahren.

    Die Ulmerin brauchte Monate, um MS zu akzeptieren

    Doch sie habe Monate gebraucht, um zu akzeptieren, dass die Multiple Sklerose jetzt ihr Leben für immer bestimmen wird. "Ich fühlte mich ja eigentlich gesund." Bis die Schübe kommen. Schiele leidet unter der häufigsten Verlaufsform der Krankheit ("schubförmig remittierende MS"). Diese ist charakterisiert durch klar abgrenzbare Schübe mit neuen oder sich verschlechternden neurologischen Symptomen. Grundsätzlich ist MS eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems. Die Ursache ist bislang nicht geklärt. Es gibt lediglich die Möglichkeit, die Symptome zu behandeln.

    Der Schub gehört zum Leben der Industriekauffrau. Vier Mal kam er wie ein lästiger, ungebetener Gast seit der Diagnose. Mit Ankündigung. Also nicht wie bei Epilepsie, einer Krankheit, die Betroffene binnen Sekunden die Kontrolle über den Körper verlieren lässt. Es zwickt mal hier, kribbelt dort und fühlt sich anders als sonst an. So kündige sich ein Schub an. Später seien die Arme oder Beine wie gelähmt. "Ich habe oft Gläser runtergeschmissen", sagt Schiele. Doch durch "extreme Konzentration" könne sie sich auch während des Schubes bewegen. Während der Arbeit habe sie noch nie einen Schub bekommen, dennoch gelte sie mit häufigen Schüben als komplizierter Fall.

    Durch das gute Verhältnis zu ihrem behandelnden Neurologen kam sie in Kontakt zur Ulmer Firma NeuroSys, einer Ausgliederung des Softwarehauses Systemhaus. Das Unternehmen entwickelt seit 2015 medizinische Apps und Softwaresysteme und möchte nach Angaben von Fia Cürten, der Marketing-Beauftragten, das erste Unternehmen von Ulm sein, das eine "App auf Rezept" herausbringt. Eine solche Digitale Gesundheitsanwendung muss - wie ein Medikament - das strenge Zulassungsverfahren des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) durchlaufen. Als eine von vier MS-Patientinnen und -Patienten bringt Schiele die Erfahrungen einer Nutzerin ein. Im steten Austausch mit der Ulmer Firma sagt Schiele, wie die App nutzerfreundlicher gestaltet werden könne.

    Fia Cürten von der  NeuroSys mit Lena Schiele (rechts).
    Fia Cürten von der NeuroSys mit Lena Schiele (rechts). Foto: Alexander Kaya

    NeuroSys will Emendia, die MS-App auf Rezept, zur Zulassung bringen

    Über die App aus Ulm - Emendia - dokumentiert die Aalenerin, wie sie sich fühlt: das allgemeine Befinden, Symptome und ihre Daten zu den Schüben. Emendia stellt medizinische Abfragen und grafische Darstellungen zum Verlauf der MS-Symptomatik zur Verfügung. Je mehr Daten Schiele eingibt, desto detaillierter kann ihr Emendia anzeigen, wie sich ihre Symptome entwickeln, beispielsweise die Fatigue ("Abgeschlagenheit") oder der Schweregrad der Beeinträchtigung über einen gewählten Zeitraum. Außerdem enthält die App eine wissenschaftsbasierte Smartphone-Anwendung ("Floodlight MS").

    Mit dem System kann Schiele selbst objektive Daten zur Handfunktion, Gehfähigkeit und Kognition zwischen den Arztbesuchen mit vier Tests erfassen und ihrem Arzt oder der Ärztin übermitteln. "Ich habe das Handy ohnehin immer dabei", sagt Schiele. Im Laufe der Zeit würden sich durch diese Art von Tagebuch Muster im Krankheitsverlauf ergeben. Diese zu kennen, helfe bei der Bewältigung des Alltags. "Ich habe die Krankheit gelernt zu akzeptieren." Sich von MS unterkriegen zu lassen, kommt für die Schwäbin nicht in die Tüte.

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