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Fußball: Das Leben des im Krieg gefallenen Alfred Picard vom SSV Ulm

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Das Leben des im Krieg gefallenen Alfred Picard vom SSV Ulm

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    Ein Foto des SSV Ulm 1928 im Von-Tschammer-Pokal, dem Vorläufer des DFB-Pokals. Vierter von rechts ist Alfred Picard.
    Ein Foto des SSV Ulm 1928 im Von-Tschammer-Pokal, dem Vorläufer des DFB-Pokals. Vierter von rechts ist Alfred Picard. Foto: SSV Ulm 1846 Fußball Archiv

    Eine Geschichte hat klassischerweise einen Anfang und ein Ende. So könnte man auch das Leben des Ulmer Fußballers und Soldaten Alfred Picard erzählen: Geboren am 21. Mai 1913, gestorben am 12. April 1945. Es wäre eine zu kurze Geschichte für einen erst 31 Jahre alten Mann, aber eine Geschichte wäre es allemal. Es steckt einiges drin in den Lebensjahren des Alfred Picard. Heute, fast 76 Jahre nach seinem Tod, steht aber fest: Das Ende seiner Geschichte ist noch gar nicht erreicht. Das liegt an einem Artikel der Nordwest-Zeitung (NWZ) in Cloppenburg, an einer Todesanzeige aus der Nähe von Offenbach und es liegt an Jürgen Springer.

    Alfred Picard spielte in den 30er-Jahren Fußball beim damaligen SSV Ulm 1928. Lange Zeit war nur wenig über seine Lebensgeschichte bekannt, doch nun gibt es neue Infos zum ehemaligen Nationalspieler.
    Alfred Picard spielte in den 30er-Jahren Fußball beim damaligen SSV Ulm 1928. Lange Zeit war nur wenig über seine Lebensgeschichte bekannt, doch nun gibt es neue Infos zum ehemaligen Nationalspieler. Foto: Archiv SSV Ulm 1846 Fußball

    Er steckt im Maskottchenkostüm Jack des SSV Ulm 1846 Fußball und kümmert sich ehrenamtlich um das Archiv des heutigen Viertligisten. Denn Alfred Picard war nicht irgend ein Mann, der wie so viele dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen war, er war ein Fußballer des damaligen SSV Ulm 1928 – und ein deutscher Nationalspieler obendrein. Jürgen Springer sagt: „Der DFB muss seine Geschichte umschreiben.“

    Für den 50-Jährigen beginnt das – wie er es nennt – „Puzzle“ der Lebensgeschichte des Alfred Picard vor ziemlich genau einem Jahr. Damals nimmt die NWZ das 75-jährige Jubiläum des Kriegsendes zum Anlass, über Alfred Picard zu recherchieren. Er war nur drei Wochen vor dem Ende des Krieges in Kneheim (Landkreis Cloppenburg) gefallen und wurde auf der Kriegsgräberstätte auf dem Sankt-Andreas-Friedhof in Cloppenburg begraben. Auf dem Grabstein steht der Familienname Picard fälschlicherweise mit zwei R geschrieben, was für die Journalisten aber kein allzu großes Problem darstellt. So gut es geht, zeichnen sie sein Leben und insbesondere seine Fußballerkarriere nach.

    Alfred Picard starb im Zweiten Weltkrieg in Norddeutschland

    Picard kam am 21. Mai 1913 im hessischen Dietesheim in der Nähe von Offenbach zur Welt, und folgte dem klassischen Weg, den auch heutige Fußballer einschlagen: er fing bei seinem Heimatverein FC Ballsport Dietesheim an. Anfang der 30er-Jahre wechselte er nach Ulm. Unklar ist nur, ob er wegen des Fußballs an die Donau kam, oder ob es daran lag, dass er Berufssoldat war und in Ulm stationiert wurde. „Wir wissen nur, dass er den Kontakt zur Heimat größtenteils abgebrochen hatte“, erklärt Jürgen Springer. Dass er in die Recherche miteinbezogen wird, liegt an einer journalistischen Notwendigkeit.

    Zeitungsleser, TV-Zuschauer oder Besucher einer Nachrichtenwebsite mögen es, wenn sie Bilder zu den Menschen sehen, über die berichtet wird. Die NWZ-Kollegen haben zwar die Infos über Picard für ihren Artikel, Fotos von ihm haben sie allerdings keine. Deshalb melden sie sich bei Springer, der anfängt, in seinem Archiv zu graben und sich selbst für das Leben des Alfred Picard zu interessieren. „Ich wusste nicht viel über ihn. Nur, wo er herkam, welche Position er spielte und dass er als Berufssoldat drei Wochen vor Kriegsende gefallen ist. Das Thema hat mich aber nicht losgelassen.“

    Zu dem Zeitpunkt geht Springer davon aus, dass der Fußballer alleine und kinderlos lebte. Springer, der als Mediaberater in Stuttgart arbeitet, findet Bildmaterial und sendet es nach Cloppenburg. Die Bilder zeigen einen Mann mit markanten Wangenknochen. Picard war Mittelläufer, eine Position, die es so im modernen Fußball nicht mehr gibt. Vergleichbar ist sie mit einem Libero, der im defensiven Zentrum verteidigt, sich aber auch in den Angriff mit einschaltet. Picard füllte die Rolle überzeugend aus, als Spieler des SSV schaffte er es in die württembergische Gau-Auswahl und 1939 sogar ins deutsche Nationalteam – für ein Spiel. Das sollte aber ein historisches werden.

    1939: Deutschland verliert bislang einziges Spiel gegen Luxemburg

    Der Gegner Luxemburg war damals wie heute kein Team, das in der Fußballwelt für Schrecken sorgt, insbesondere nicht für die deutsche Nationalmannschaft. An diesem 26. März 1939 jedoch war das anders, Deutschland verlor mit 1:2, es ist die bis heute einzige Niederlage einer deutschen Auswahl gegen den Zwergstaat. Besser lief es drei Jahre zuvor für Picard im Ulmer Trikot. Da bezwangen er und sein Team in der ersten Runde des Tschammer-Pokals, der später zum DFB-Pokal werden sollte, Bayern München mit 4:3. Die Bayern waren damals zwar noch weit davon entfernt, die Macht im deutschen Fußball zu sein, die sie heute sind, der Sieg steht aber trotzdem im Geschichtsbuch der Ulmer. Auch deshalb hat Jürgen Springer ein so großes Interesse an dem ehemaligen Fußballer. Dass Springer heute mehr über ihn berichten kann als vor einem Jahr, verdankt er einem glücklichen Zufall.

    Denn mit der Bereitstellung des Bildmaterials hätte es mit der Recherche vorbei sein können. In der NWZ erscheint am 11. April 2020 der Artikel über Alfred Picard. Aus lokalem Interesse berichtet auch die Offenbach Post über den Leutnant, der während des Krieges im Luftwaffensportverein Danzig Fußball spielte. Daraufhin meldet sich völlig überraschend eine 80 Jahre alte Nichte Picards bei der Zeitung. „Das war ein Sechser im Lotto“, sagt Springer. Die Nichte erzählt, dass Picard verheiratet war, einen Sohn und Enkel hatte. Sogar daran, dass ihr Onkel sie einmal während eines Fronturlaubs besucht hatte, erinnert sie sich. „Dass es eine Familie gibt, war allen unbekannt“, erzählt Springer. Ihn packt der Ehrgeiz, mehr herauszufinden. Er unterhält sich mit der Nichte und findet so heraus, dass Picards Nachkommen irgendwo in Süddeutschland leben müssen – ein vager Hinweis der Nichte, die keinen Kontakt zu den Verwandten hat. Aber Springer war froh. Einige Stücke des „Puzzles aus 1000 Teilen“ hat er jetzt zusammen. Das entscheidende findet er vor einigen Tagen.

    Durch das Gespräch mit Picards Nichte weiß er, dass dessen Ehefrau Anna hieß. Auf gut Glück tippt er also den Namen „Anna Picard“ in seine Internet-Suchleiste und stößt auf eine Todesanzeige aus Mühlheim am Main in Hessen. „Anna Picard, geb. Boll“ steht dort. Geboren am 21. November 1912, gestorben am 16. August 2011 im Alter von 98 Jahren. Auch die Namen ihrer Verwandten stehen in der Anzeige und dieser Satz: „Die Urne wird zu einem späteren Zeitpunkt auf dem Friedhof in Burgau beigesetzt.“ Burgau im Landkreis Günzburg, praktisch gleich um die Ecke zum SSV. Durch weitere Internetrecherche macht Jürgen Springer Alfred Picards Enkel Ralph ausfindig. Das Puzzle ist nun fast komplett.

    SSV-Archivar spürt Familie des Ulmer Fußballers Picard auf

    Alfred Picards Enkel Ralph Picard (links) und Jürgen Springer.
    Alfred Picards Enkel Ralph Picard (links) und Jürgen Springer. Foto: Archiv SSV Ulm 1846 Fußball

    In der vergangenen Woche treffen sich Ralph Picard, Jürgen Springer und dessen Kumpel Andreas Wachter, der selbst ehrenamtlich beim SSV aktiv ist, im Funktionsgebäude der Spatzen an der Gänswiese. Unsere Redaktion ist dabei. „Ich war natürlich überrascht, als ich den Anruf von Jürgen Springer erhalten hatte“, erzählt Ralph Picard. „Wie sollte ich auch auf die Idee kommen, dass zwei Menschen in meiner Familiengeschichte herumforschen?“ Springer ergänzt: „Ich habe mehr in seiner Familie geforscht als in meiner eigenen.“ Picard erzählt, dass auch er nicht viel über seinen Großvater wusste, ehe sich der SSV-Archivar bei ihm gemeldet hat.

    In der Familie des 58-Jährigen war das nie ein großes Thema, ihm wurde nur erzählt, dass sein Opa Nationalspieler des SSV Ulm war und dass er im Krieg umkam. Mehr wollten seine Großmutter und sein Vater, Picards Sohn, nicht erzählen. „Ein Kriegstrauma innerhalb der Familie“, vermutet Ralph Picard. Seine Großmutter hatte Ulm 1944 nach dem verheerenden Bombenangriff auf die Stadt verlassen und war zurück in ihre hessische Heimat gezogen. Ihr Enkel erinnert sich an eine „herzensgute Frau“, die nach dem Tod seines Großvaters nicht wieder geheiratet hatte. „Mein Opa, das war für sie immer der Ehemann.“ Die Schwester von Ralph Picard wusste genau wie er nur wenig über ihn.

    Jürgen Springer hat Licht ins Dunkel gebracht – und Fotos, die er Ralph Picard in Ulm übergibt. Historische Aufnahmen seines Großvaters und genau 46 Bilder von ihm und Andreas Wachter aus Cloppenburg. Im September waren die beiden auf Einladung der NWZ in den Norden gereist, um Alfred Picards Grab zu besuchen. Springer und Wachter legten einen Kranz nieder, ein „Gänsehautmoment“, erzählt Springer. „Das ist ja wie Weihnachten“, sagt Ralph Picard über diese und die anderen Aufnahmen.

    Für ihn ist es ähnlich wie es in den vergangenen Wochen und Monaten für Jürgen Springer war: Stück für Stück wird das Bild seines Großvaters klarer. Es wäre ein versöhnliches Ende der Geschichte von Alfred Picard. Doch Jürgen Springer möchte mehr herausfinden und versuchen, das Schweigen von Ralph Picards Vater zu brechen. Die Geschichte könnte noch weitergehen.

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