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Neue Bahn-Trasse: Die Jahrhundertstrecke zwischen Ulm und Stuttgart geht in Betrieb

Neue Bahn-Trasse

Die Jahrhundertstrecke zwischen Ulm und Stuttgart geht in Betrieb

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    Noch finden auf der neuen Strecke Ulm–Wendlingen Trainingsfahrten nur für das Personal statt.
    Noch finden auf der neuen Strecke Ulm–Wendlingen Trainingsfahrten nur für das Personal statt. Foto: Alexander Kaya

    Man kann auf eine goldene Zukunft hoffen oder das gigantische Projekt verteufeln. Man kann es aber auch ganz nüchtern sehen, so wie Joachim Barth vom Fahrgastverband Pro Bahn. "Die Strecke ist nun mal da, und dann soll sie auch genutzt werden", sagt er. Die Strecke, das sind 60 neue Schienenkilometer, zwölf Tunnel mit 61 Kilometern Tunnelröhren, 27 Brücken und ein neuer Bahnhof. Fast vier Milliarden Euro kostete die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm, Züge werden dort bis zu 250 km/h schnell fahren können. Auf der Strecke, die schon bald, am 11. Dezember, eröffnet wird. Fahrgäste werden zügiger am Ziel sein, auch wenn der ganz große Plan frühestens in drei Jahren Wirklichkeit wird. Dann soll Stuttgart 21 fertig sein, der tiefergelegte Hauptbahnhof. Der nächste große Plan ist schon in Arbeit. Und wieder gibt es Ärger.

    Neubaustrecke Wendlingen–Ulm: "Ich freue mich drauf"

    Doch blicken wir noch einmal auf die jetzigen Verhältnisse. Eine Fahrt, die auf der bisherigen, kurvigen Strecke durch das Württembergische erfolgt. Um 6.53 Uhr verschluckt der ICE 614 die Menschen, die an Gleis 1 warten. Der Zug ist fünf Minuten zu spät. Als er aus dem Ulmer Hauptbahnhof abfährt, ist der zuvor volle Bahnsteig leer. Drinnen ist fast jeder Platz besetzt. "Ich freue mich drauf", sagt etwa ein Mann aus Aulendorf in Oberschwaben über den Start auf der Neubaustrecke.

    Wenn Stuttgart 21 fertig ist, soll sich auf dem Turm des Bonatzbaus am linken Bildrand wieder ein Mercedes-Stern drehen. Das Innere des fast 100 Jahre alten Gebäudes wird komplett umgestaltet.
    Wenn Stuttgart 21 fertig ist, soll sich auf dem Turm des Bonatzbaus am linken Bildrand wieder ein Mercedes-Stern drehen. Das Innere des fast 100 Jahre alten Gebäudes wird komplett umgestaltet. Foto: Sebastian Mayr

    Bisher kostet ihn jede Fahrt von daheim nach Stuttgart fast zwei Stunden Zeit. "Ich lass das mal auf mich zukommen. Es geht dann hoffentlich schneller", sagt ein anderer. Drinnen tippen Pendlerinnen auf ihre Smartphones,

    Fahrgastverband Pro Bahn zweifelt am Nutzen von Stuttgart 21

    Joachim Barth ist Landesvorsitzender von Pro Bahn in Baden-Württemberg. Der Fahrgastverband hat sich anfangs neutral zum umstrittensten Bauprojekt der jüngeren Vergangenheit geäußert. Später übte er deutliche Kritik am Konzept von Stuttgart 21: Die Ziele dichterer Takt, schnellere Fahrten und zusätzliche Anbindungen erreiche man entweder gar nicht – oder nur auf Kosten anderer Fahrgäste, zum Beispiel in der S-Bahn.

    Auf der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm soll also der Verkehr am 11. Dezember losrollen. Die letzten Kilometer bis Stuttgart fehlen noch. Was fertig ist, soll schon genutzt werden. "Ein Zwischenschritt, aber sicher ein Vorteil für die Fahrgäste dort", sagt Barth. Der ganz große Vorteil werde noch kommen. 2025 soll der neue tiefergelegte Hauptbahnhof Stuttgart 21 fertig sein. Aber: Nicht allein Menschen, die das Projekt kritisch sehen, zweifeln an diesem Datum.

    Kritikerinnen und Kritiker gibt es viele. Sie prangern die Umweltzerstörungen in Stuttgart und auf der Schwäbischen Alb an. Sie kritisieren die gewaltigen Kosten von Stand jetzt knapp 14 Milliarden Euro und zweifeln am Nutzen: Der Bahnverkehr werde instabiler. Sie halten die erwarteten Fahrgastzahlen für übertrieben. Sie bemängeln das Brandschutzkonzept. Und, und, und.

    Schon 635-mal haben sie sich zu Montagsdemonstrationen auf dem Stuttgarter Schlossplatz getroffen. Nicht weit davon, im Schlossgarten, erlebte der Streit um das Jahrhundertprojekt am 30. September 2010 seinen hässlichen Höhepunkt. Die Polizei vertrieb Demonstrantinnen und Demonstranten mit Schlagstöcken, Wasserwerfern und Pfefferspray. Ein Mann erblindete fast vollständig, weil ihn ein Wasserwerferstrahl traf. Ein rechtswidriger und überzogener Einsatz, urteilte später das Verwaltungsgericht Stuttgart. Angesichts des heftigen Widerstands in der Landeshauptstadt ging fast unter, dass auch die Neubaustrecke zwischen Wendlingen und Ulm auf Gegenwehr stieß.

    Stuttgarter Hauptbahnhof ist seit Jahren eine Baustelle

    "Viele haben sich auf Stuttgart 21 konzentriert, weil man ja nicht alles verhindern kann", sagt Steffen Siegel, Vorsitzender der Schutzgemeinschaft Filder. Der Mann hat schon 1999 als Grünen-Kreisrat in Esslingen über die Pläne geschimpft: "Größenwahnsinniges Projekt" und "Schwachsinn auf Schienen". Der Partei gehört Siegel längst nicht mehr an, beim Bahnprojekt hat er in einem schleichenden Prozess resigniert.

    Seine letzte Hoffnung: Dass die Neubaustrecke ab Wendlingen nicht über den Flughafen, sondern über die Städte Plochingen und Esslingen führt und Vorteile für die Einheimischen bringt. Siegel war dafür, die bestehende Strecke durch das Filstal auszubauen. Die war schließlich schon da, weniger Äcker wären dem Ausbau zum Opfer gefallen. Doch das

    So sieht der Fahrgastbeirat BW die Neubaustrecke

    Der Fahrgastbeirat BW vertritt die Interessen aller, die Regionalzüge in Baden-Württemberg nutzen. Als beratendes Gremium ist er Bindeglied zwischen Fahrgästen und Land sowie Ansprechpartner für Wünsche, Anregungen und Kritik von Fahrgästen.

    Vorsitzender Matthias Lieb betont, der Fahrgastbeirat Baden-Württemberg freue sich über die Teilinbetriebnahme der Schnellfahrstrecke samt Regionalhalt Merklingen. "Durch diesen Halt samt dem neuen Buskonzept auf der Schwäbischen Alb nutzt diese Schnellfahrstrecke auch dem ländlichen Raum", lobt Lieb.

    Lieb hebt die Fahrzeitverkürzungen für Fahrgäste von Ulm nach Stuttgart, Tübingen und Reutlingen hervor. Im Filstal könnten die Fahrpläne im Regionalverkehr verbessert werden, da die Fernzüge nicht mehr so häufig den Takt stören können.

    Kritisch sieht der Fahrgastbeirat den langen eingleisigen Abschnitt auf den ersten Kilometern von Wendlingen, das könne Probleme bei der Fahrplanstabilität verursachen. Ein mögliches Szenario: Verspätete Fernzüge nutzen doch die alte Filstalstrecke, damit sich nicht alle anderen Züge auf der Schnellfahrstrecke zusätzlich verspäten. Dann aber könnten dort die alten Probleme zurückkehren. "Überhaupt ist der Abschnitt Plochingen–Wendlingen zukünftig ein deutlicher Streckenengpass", bemängelt Lieb. (mase)

    Neubaustrecke zwischen Ulm und Wendlingen geht in Betrieb

    Die Idee für die Trasse entlang der A8 stammt von Gerhard Heimerl. Der Verkehrswissenschaftler hoffte, dass Autofahrerinnen und Autofahrer wegen der Zeitersparnis auf den Zug umstiegen. Der geplante neue Halt am Flughafen soll noch mehr Fahrgäste anlocken. Den Start auf der Strecke erlebt der Professor für Eisenbahnwesen nicht mehr, er starb 2021.

    Gerhard Heimerl ließ sich 2019 von Projektleiter Stefan Kielbassa die Bahn-Baustelle zeigen. Der Eisenbahnwissenschaftler, damals 85, war von zwei Schlaganfällen gezeichnet.
    Gerhard Heimerl ließ sich 2019 von Projektleiter Stefan Kielbassa die Bahn-Baustelle zeigen. Der Eisenbahnwissenschaftler, damals 85, war von zwei Schlaganfällen gezeichnet. Foto: Thomas Heckmann

    Zurück zu unserer Reise auf der bisherigen Strecke. Ankunft in Stuttgart. Die, die schon jetzt von München, Augsburg und Ulm aus Zug fahren, gehen mit langen Schritten von Gleis zehn in Richtung Stadtbahn und Innenstadt. Es ist 7.51 Uhr. Der Stuttgarter Hauptbahnhof ist seit Jahren eine Mischung aus Baustelle und Werbung für die eigene Zukunft. Bunte Linien auf dem Boden zeigen, welcher Weg wohin führt. Morgens schaut niemand nach unten auf das Leitsystem in Rot, Blau, Gelb und Violett.

    Für die Bahnpendlerinnen und -pendler soll das Jahrhundertprojekt eines Tages geschenkte Zeit, Tag für Tag, bedeuten. Wenn alles fertig ist, werde sich die Fahrtzeit von Ulm nach Stuttgart fast halbieren, auf 35 Minuten. Ab 11. Dezember geht es im Regionalverkehr von Ulm nach Stuttgart vier bis sieben Minuten und mit dem ICE eine Viertelstunde schneller. Wer von Ulm nach Reutlingen oder Tübingen will, spart sich mehr als eine halbe Stunde.

    Kritiker demonstrieren noch immer gegen Stuttgart 21

    Die Wirtschaft sieht große Chancen im Bahnprojekt, das Stand jetzt in Summe annähernd 14 Milliarden Euro kosten soll. Bei der Industrie- und Handelskammer Schwaben in Augsburg ist man überzeugt: "Es hilft Ulm und Neu-Ulm, es hilft Augsburg, es hilft dem Allgäu." Peter Stöferle ist Verkehrsfachmann der Kammer, er spricht von einem "ganz wichtigen Projekt aus Sicht der Wirtschaft". Die Unternehmen in der Region sind hoch erfolgreich, trotz einer Lücke in der Infrastruktur. Die "Magistrale für Europa" verbindet Paris mit Bratislava und Budapest, doch im Süden Deutschlands können Schnellzüge bislang nicht besonders schnell fahren.

    Die neue Strecke, so die Hoffnung, macht die regionalen Unternehmen für Beschäftigte und Geschäftspartner attraktiver. Der Handel könnte neue Kundschaft bekommen, zusätzliche Arbeitsplätze könnten entstehen. Stöferle sagt auch: "Die Geschichte ist damit nicht zu Ende, es muss auf der bayerischen Seite weitergehen." Da aber wehren sich Bürgerinitiativen vehement gegen alle möglichen Varianten, die für den Bahnausbau zwischen Ulm und Augsburg im Gespräch sind. "Die Region profitiert davon, auch wenn der ICE nicht in jedem Ort hält", ist Verkehrsfachmann Stöferle überzeugt.

    Bei den Bürgerinitiativen sieht man das anders. Der Neubau einer ICE-Strecke für eine Viertelstunde Zeitersparnis gilt als unverhältnismäßig. Warnschilder auf Feldern zeigen, wo die Natur durchschnitten werden könnte. Zumal vor Jahren für etliche Millionen Euro auch noch streng geschützte Eidechsen umgesiedelt werden mussten. Was die Bauarbeiten zusätzlich verzögerte.

    Jetzt ist die Neubaustrecke da – und sie soll auch genutzt werden

    Die Deutsche Bahn wirbt mit einem Infomobil für das Projekt, vor ein paar Tagen ist der Anhänger in Kissendorf im Kreis Günzburg von Unbekannten demoliert worden. Die Bürgerinitiative Schwabentrasse fühlt sich aber vom Bahn-Projektleiter verdächtigt und weist das "schärfstens" zurück.

    Chronologie des Bahnprojekts Stuttgart–Ulm

    1985 sieht der Bundesverkehrswegeplan vor, das Schienennetz von Stuttgart aus Richtung Osten zu erweitern. Die damals neue Strecke Mannheim–Stuttgart soll fortgesetzt werden.

    1988 legt der Verkehrswissenschaftler Gerhard Heimerl seine Idee vor, eine Neubaustrecke zwischen Stuttgart und Ulm entlang der A8 zu bauen.

    1992 fordert der Stuttgarter Gemeinderat, dass der Hauptbahnhof in der Stadtmitte bleiben soll. Einen ausgelagerten Fernbahnhof soll es nicht geben.

    1995 stellen Deutsche Bahn, Bund, Land und Stadt Stuttgart die Machbarkeitsstudie von Stuttgart 21 vor. Darin heißt es: "Stuttgart 21 ist technisch machbar" und "bringt Vorteile für Städtebau und Verkehr". Fachleute bestätigen nach Vorplanungen, dass das Projekt wirtschaftlich ist.

    1997 gewinnt das Büros Ingenhoven, Overdiek und Partner aus Düsseldorf mit seinem Entwurf den Wettbewerb zur Gestaltung des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs.

    1999 spricht sich Bahnchef Johannes Ludewig dagegen aus, das Projekt fortzuführen. Der Landtag von Baden-Württemberg dagegen ist dafür.

    2001 einigen sich Bund und Land über die Vorfinanzierung.

    2006 wird die Genehmigung zum Neubau des Hauptbahnhofs erteilt.

    2009 unterzeichnen Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), Baden-Württembergs Ministerpräsident Günther Oetinger (CDU) und Infrastruktur-Vorstand Stefan Garber von der Deutschen Bahn die Finanzierungsvereinbarung.

    2010 beginnt am Kopfbahnhof der Abriss des Nordflügels. Zehntausende Menschen protestieren gegen das Projekt. Am "Schwarzen Donnerstag", 30. September, geht die Polizei gewaltsam gegen Demonstrantinnen und Demonstranten im Mittleren Schlossgarten vor. Es gibt Verletzte. Tags darauf werden die ersten Bäume gefällt.

    2010 stuft ein Gutachten im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums den Bau der Neu- und Ausbaustrecke Stuttgart–Ulm–Augsburg als wirtschaftlich ein. Befürworterinnen und Befürworter sowie Gegnerinnen und Gegner diskutieren in neun Gesprächsrunden über das Projekt, Der CDU-Politiker und Ex-Minister Heiner Geißler fungiert als Schlichter. Sein Schlichterspruch: Das Projekt soll bleiben, doch ein Stresstest soll Verbesserungspotenzial zeigen.

    2011 fragt die neue grün-rote Landesregierung die Bevölkerung, ob das Land aus der Finanzierung aussteigen soll. Knapp 60 Prozent sind dagegen – das Land soll weiter bezahlen, das Projekt bleibt erhalten.

    2012 beginnt der Bau der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm mit einem offiziellen Spatenstich bei Dornstadt.

    2016 wird die erste Röhre des Tunnels Bad Cannstatt in Richtung Hauptbahnhof durchgeschlagen.

    2018 gibt die Deutsche Bahn bekannt, dass das Bahnprojekt Stuttgart–Ulm teurer wird als geplant. Außerdem wird es später fertig. Stuttgart 21 soll 7,7 Milliarden Euro kosten und 2025 in Betrieb gehen, die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm soll 3,7 Milliarden Euro kosten und 2022 fertiggestellt werden. Stand 2022 sind die Kosten weiter gestiegen, auf knapp 10 Milliarden Euro für den Bahnhof und auf knapp vier Milliarden Euro für die Neubaustrecke.

    2019 wird der Grundstein für den Bahnhof Merklingen auf der Schwäbischen Alb gelegt.

    2022 schaltet die Deutsche Bahn entlang der Neubaustrecke Wendlingen–Ulm den Strom ein. Die Testfahrten beginnen. Am 11. Dezember verkehren die ersten fahrplanmäßigen Züge. (AZ)

    Während Gegnerinnen und Gegner in Stuttgart inzwischen für einen "Umstieg" des Bahnhofsprojekts kämpfen, wird am anderen Ende der Strecke nüchtern geplant. In der Nähe des Ulmer Hauptbahnhofs sind neue Wohnungen gebaut worden, der Takt der Straßenbahn soll dichter werden, und bei der Deutschen Bahn hat die Stadt mit Nachdruck für einen modernisierten Hauptbahnhof gestritten. Sorgen sind kaum zu vernehmen, allenfalls wegen vermutlich noch weiter steigender Mietpreise. Eine prominente Gegnerin gibt es auch hier: Brigitte Dahlbender, lange Zeit baden-württembergische Landesvorsitzende der Naturschutzorganisation Bund.

    Dass der Widerstand scheiterte, bezeichnete sie einmal als eine ihrer größten Niederlagen. Dahlbender war bei den Runden dabei, in denen der CDU-Politiker Heiner Geißler vermitteln sollte. Mit dem Ergebnis, dass das Bahnprojekt mit Nachbesserungen nach einem Stresstest weitergehen soll. Der Schlichterspruch zwei Monate nach dem brutalen Polizeieinsatz im Schlossgarten machte den Weg für das Projekt frei. Ein Jahr später wurde ein letztes Mal abgestimmt: Die neue grün-rote Landesregierung Baden-Württembergs fragte die Bevölkerung, ob das Land aus der Finanzierung aussteigen solle. Und: Knapp 60 Prozent waren dagegen. Das Land zahlte, das Projekt kam. Jetzt ist zumindest die Neubaustrecke da. Und dann soll sie auch genutzt werden.

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