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Neu-Ulm: AnnenMayKantereit in der Ratiopharm-Arena – oder: Irgendwas fehlt immer

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AnnenMayKantereit in der Ratiopharm-Arena – oder: Irgendwas fehlt immer

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    Annen, May und Kantereit, drei Männer geben dieser Band ihren Namen. Trotzdem: Henning May ist das große Marken-Gesicht dieser deutschen Boyband.
    Annen, May und Kantereit, drei Männer geben dieser Band ihren Namen. Trotzdem: Henning May ist das große Marken-Gesicht dieser deutschen Boyband. Foto: Felix Oechsler

    Wie ein schlanker, junger Elvis tanzt Henning May. Er wackelt mit den Hüften, er greift das Mikrofon mit beiden Händen, als bräuchte er Halt, damit ihn seine eigene Stimme nicht von der Bühne bläst. Die Fans singen mit – „Es tut mir leid, Pocahontas“ brüllen tausende Stimmen auf Kommando. Und doch hört man aus der Masse diese eine Stimme heraus, die so kräftig kratzt und vibriert. Diese tiefe, brummende Klangwelle dringt aus Henning Mays Kehle. Sie trägt sich über die Boxen bis in die letzte Ecke der Arena, vermengt sich mit Basedrum-Donner und am Ende dieser Schwingungskette – sitzt einem die Gänsehaut im Nacken. Zumindest in den schönsten Momenten. Wenn AnnenMayKantereits Musik an der Seele rüttelt.

    AnnenMayKantereits Auftritt in der Neu-Ulmer Ratiopharm-Arena

    Wer sagt denn, dass man in weltschwerer Wehmutslaune nicht singen, feiern und tanzen kann? Jedenfalls nicht AnnenMayKantereit. Das junge Männertrio aus Köln schoss 2015 mit „Oft gefragt“ zum ersten Mal durch die Decke der Charts. Ihre Lieder und Texte, ihre deutschen Pop- und Rock-Songs, nehmen ein Bad in der Sehnsucht. Denn irgendwas fehlt immer: Liebe, eine Ex-Freundin, der eigene Vater, Drogen. Und selbst wenn Henning May in einem schwingenden, sonnigen Lied von der Hoffnung auf dauernde Liebe singt, setzt der Songtitel sofort ein Fragezeichen ans Ende: „Vielleicht, vielleicht“. Diese Musik ist, wenn man so will, ein Präparat gegen emotionale Mangelerscheinungen – und es wirkt. Tausende junge, nicht nur weibliche Fans lieben diese Lieder. Tausende feiern die Band in der Neu-Ulmer Ratiopharm-Arena.

    „Wart ihr schon einmal auf der Hochzeit einer Ex-Freundin oder eines Ex-Freunds?“, fragt May in die Menge. Er schon. Und natürlich hat er darüber einen Song geschrieben und am Ende der Geschichte sitzt er abseits im Schatten und denkt an die verflossene Zeit. Sämtliche Verlustszenarien spielen die drei Männer in ihren Liedern durch. Dazu spielt an passender Stelle eine einsame Gitarre, ein Wehmuts-Akkordeon, eine Mundharmonika. Ein Trompeter posaunt die Sehnsucht in die nachtschwarze Arena hinaus, wo Handylichter funkeln. Verlust – das Thema führt in den selbstverfassten Texten von AnnenMayKantereit bis zum Verlust von Menschenleben auf dem Mittelmeer. Sie haben einen Song für Seenotretterin Pia Klemp komponiert. Dieser Appell an die Menschlichkeit feiert in Neu-Ulm seine Live-Premiere. Zwischen allen Liebesliedern spielt also auch die Gesellschaft eine Rolle. „Flüchtlingskrise fühlt sich an wie Reichstagsbrand“, heißt es in „Weiße Wand“, wo einem die Poesie, die Rassismus zum Thema macht, dann doch etwas ratlos zurücklässt. Aber das stört nicht den guten Willen und die gute Musik. Auch nicht, wenn sich die Kölner erdreisten, das Rilke-Gedicht vom Panther in einem Lied zu zitieren.

    AnnenMayKantereit verbreitet Weltschmerz und Tanzlaune

    May ist 28 Jahre alt. Er sieht nach fast zehn Jahren Bandgeschichte immer noch aus wie der grinsende Gymnasiast aus Reihe sieben, der sich einen feuchten Kehricht um die nächste Mathe-Prüfung schert. Apropos Abitur, die Gruppe fand als Schülerband zusammen, dann ging sie auf die Straße. Alte Videos zeigen, wie die Fußgängerzone auf das Trio reagierte: Verblüfft und ungläubig, wie aus so einem schmalen Jungen solch eine Stimme herausbricht.

    In Neu-Ulm setzt jetzt ein stampfender, rumpelnder Beat ein. Spanische Anklänge, Süden, Sonnenbrand und Flamenco. „Ich geh heut nicht mehr tanzen“ heißt der Song – und alle tanzen, vom Parkett bis zu den Rängen. Diese Stimmung produziert vor allem Christopher Annen an der Gitarre, ein höchstentspannter Mann, der vor dem Auftritt noch kaum bemerkt durchs Publikum schlich, um der Vorband zuzuhören. Straßensound und Improvisationstalent bringt Drummer Severin Kantereit mit ins Spiel. Statt gegen eine Bass-Drum stampft er mit dem Pedal auch mal gegen einen Koffer. Das Bild stimmt: Ein Straßenmusiker, der unterwegs ist mit Gepäck. Die Band schlendert dann auch ganz unbehelligt mitten durch das Publikum hindurch auf eine zweite Bühne.

    AnnenMayKantereit bieten eine kinoreife Show in Neu-Ulm

    AnnenMayKantereit sind Straßenmusiker, T-Shirt–Typen mit Talent. Aber sie bieten auch eine kinoreife Show auf den Großleinwänden der Arena. Ein Kameraschwenk zeigt Mays Finger, die über Klaviertasten hinwegfedern. Dann der Zoom auf sein Gesicht: Traumtief versunken. Oder mit einem großen Lächeln. Oder laut brüllend, bis die Adern an seinem Hals hervortreten. „So was kriegst du aus’m Herzen nicht mehr raus“ heißt es in einem Song. Tatsächlich: Diese Wehmut und Lebenslust kriegt man für die Dauer der Lieder nicht aus dem Herzen – und die Songs nicht mehr aus dem Ohr.

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