Schockierende Bilder kommen aus der Ukraine, Solidaritäts-Bekundungen aus Ulm und Umgebung: Der Krieg ist wieder in Europa angekommen. Bei der Kundgebung in Ulm auf dem Münsterplatz stehen Ukrainer und Russen Seite an Seite für den Frieden ein. So wie Yury Vilk. Der Russe trägt ein ukrainisches Nationaltrikot.
"Ich bin traurig und enttäuscht von meinem Land", sagt Vilk, der bei der Universität Ulm beschäftigt ist. Putin müsse gestoppt werden. Nur wie, das könne auch er nicht sagen. Neben Vertretern von Parteien und Hilfsorganisationen sind auch viele Ukrainer auf den Münsterplatz gekommen, um ein Zeichen gegen den Krieg in Europa zu setzen. So wie Irina Yadanowski. Seit 30 Jahren lebt sie schon in der Nähe von Ulm, doch sie hat immer noch Kontakt zu Freunden und Teilen der Familie in der Ukraine, in Winnyzja , etwa 200 Kilometer südlich von Kiew. Ihre Tochter sei auf dem Weg an die ukrainisch-polnische Grenze, um Geflüchteten aus dem Kriegsgebiet zu helfen. "Die Menschen haben Angst. Putin ist ein Mörder."
Es gibt in der Region eine große Hilfsbereitschaft für Menschen, die vor dem Krieg flüchten – auf kommunaler Ebene wie auf privater. Die beiden Neu-Ulmer Stadtkirchen und Pfarrer Stefan Reichenbacher in Reutti organisieren unterdessen Friedensgebete. Die Sorge um ihre Familienangehörigen in der Ukraine raubt nicht nur Irina Yadanowski den Schlaf.
Oksana Hanke bangt um ihre Mama und Schwester in der Ukraine
Oksana Hanke sieht man die Last der vergangenen Tage und Nächte an. "Ich muss mich beruhigen", ruft sie sich gegen die Verzweiflung immer wieder zur Ordnung, während sie spricht. Mahnwachen zu besuchen, gibt ihr Kraft. "Ich kann nachts nicht mehr als vielleicht vier Stunden schlafen, wenn überhaupt", sagt die Journalistin, die seit elf Jahren in Neu-Ulm lebt. "Mama ist dort. Meine Schwester ist dort. Ich bin mit meinen beiden Kindern allein in Deutschland." Sie telefoniert viel mit ihren Angehörigen in der Ukraine, recherchiert Stunden im Internet, um ein möglichst realistisches Bild der Situation zu bekommen.
Ihre Mutter und ihre Schwester leben in Transkarpatien, unweit der ungarischen Grenze. Aus der Ukraine fliehen wollen sie nicht. "Ich habe es angeboten, wenn sie zu mir kommen wollen. Aber sie wollen nicht weg." Oksana Hanke berichtet von einer großen Angst der Menschen in der Ukraine vor Plünderungen. "Und wenn eines Tages Frieden ist, möchte man zurück, und da ist nichts mehr." Deshalb versuchten die Menschen, ihre Häuser und Wohnungen möglichst nicht zu verlassen. "Außerdem gibt es russische Saboteur-Gruppen." Verkehrszeichen würden beispielsweise verändert, was für Menschen ohne Ortskenntnis extrem gefährlich sein kann.
Transkarpatien sei ein gegenwärtig relativ sicherer Teil der Ukraine. "Aber was heißt 'sicher' in diesen Tagen?" Oksana Hanke befürchtet eine humanitäre Katastrophe, wenn sich zu viele Menschen dorthin flüchten. "Es gibt Hamsterkäufe." Obwohl Lebensmittel wie auch Treibstoffe gegenwärtig ausreichend vorhanden seien. Ein Teil von Oksana Hankes Familie lebt im umkämpften Wassylkiw im Süden von Kiew, ein anderer in L´viv. Die Verwandten aus L´viv sind wegen der Kämpfe in der Stadt bereits zu den Verwandten nach Transkarpatien geflüchtet. "Sie haben zwölf Stunden gebraucht für die 200 Kilometer bis Uschhorod!", erzählt Oksana Hanke schockiert. "Allein vier Stunden an einer Tankstelle, weil die Schlangen zum Tanken kilometerlang sind."
Ihr Sohn darf die Ukraine nicht verlassen
Lana Lyzunyk kann kaum noch in deutscher Sprache denken. Ihr WhatsApp-Profilbild, das sonst ihr freundliches Gesicht zeigte, verschwand am Morgen des Kriegsbeginns, sie tauschte es aus gegen ein Bild blauen Himmels und sonnengelben Getreides, die Farben der Ukraine. Die 49-Jährige hatte lange nicht geglaubt, dass es zum Krieg kommen würde. Als ihr Sohn eine Waffe ausgehändigt bekam, begann sie zu weinen, die Tränen überkommen sie immer wieder. Die Sorge um ihn und die alten Eltern im Osten der Ukraine bringt sie zur Verzweiflung. "Seit mich die Anrufe aus der Ukraine aufgeweckt hatten am 24. Februar. Die Anrufe sagten, dass der Krieg begann. Ich habe keine Worte für meine Gefühle."
Die Eltern sind in Kiew
Dass es ihr seelisch das Herz zerreißt, führt inzwischen auch zu physischen Herzschmerzen. Ihr Sohn darf – wie alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren – die Ukraine nicht verlassen. Ihre Eltern müssten durch das umkämpfte Kiew, wenn sie versuchen würden, zu fliehen. Der Gedanke, dass der Treibstoff ausgeht und sie auf dem Feld stehen bleiben würden, ist für die Tochter nicht auszuhalten. "Ich werde heute Nacht nicht schlafen", sagte sie am Samstagabend – und zeigte ein Foto aus Kiew, wo nach dem Einschlag einer Rakete in ein Hochhaus Staub aufsteigt. Für einen Moment schien sich aus dem Staub etwas wie eine Friedenstaube gebildet zu haben.