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Interview: Immer mehr Straftäter psychisch krank? Ein Gerichtspsychiater berichtet

Interview

Immer mehr Straftäter psychisch krank? Ein Gerichtspsychiater berichtet

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    Das vom eigenen Vater getötete Mädchen in Wiblingen, die Samuraischwert-Attacke in Neu-Ulm, das Tötungsdelikt am Eselsberg und der Flaschenangriff an der B10-Unterführung: Mehrere Verbrechen sorgten zuletzt im Raum Ulm für Entsetzen, oftmals spielten psychische Ausnahmezustände eine Rolle. Gerichtspsychiater Andreas Küthmann berichtet.
    Das vom eigenen Vater getötete Mädchen in Wiblingen, die Samuraischwert-Attacke in Neu-Ulm, das Tötungsdelikt am Eselsberg und der Flaschenangriff an der B10-Unterführung: Mehrere Verbrechen sorgten zuletzt im Raum Ulm für Entsetzen, oftmals spielten psychische Ausnahmezustände eine Rolle. Gerichtspsychiater Andreas Küthmann berichtet. Foto: Kaya/Kroha/Heckmann/Scholz

    Wie ist es, mit Mördern zu sprechen?
    DR. ANSo wie mit jedem anderen Menschen auch. Wenn ich jemanden untersuche, bei dem dieser Vorwurf im Raum steht, versuche ich möglichst unvoreingenommen ins Gespräch zu gehen.

    Wie gehen Sie dabei vor? 
    DR. ANDREAS KÜTHMANN: Handelt es sich um ein gravierenderes Delikt und jemand ist in der JVA, gehe ich dorthin. Dann setze ich mich mit dem Menschen zusammen und erkläre ihm erst einmal, dass es um ein Gutachten und keine Behandlung geht. Dass alles, was er mir sagt, nicht der Schweigepflicht unterliegt. Das muss der Mensch vorher wissen. Dann frage ich meistens, wie es ihm geht. Warum er überhaupt in der Situation ist. Im Weiteren frage ich nach seiner Lebensgeschichte, seinen Vorerkrankungen, seinen Vorbehandlungen, den Konsum von Suchtmitteln sowie nach seiner Familie. Auch zu Vorstrafen, und ob er schon einmal begutachtet wurde.

    Dr. Andreas Küthmann fertigte unter anderem im Doppelmord von Altenstadt psychiatrische Gutachten zu den Angeklagten an.
    Dr. Andreas Küthmann fertigte unter anderem im Doppelmord von Altenstadt psychiatrische Gutachten zu den Angeklagten an. Foto: Siegfried Rebhan (Archivbild)

    Wie lange geht so ein Gespräch? 
    DR. ANDREAS KÜTHMANN: Das ist unterschiedlich. Das kann schnell vorbei sein, wenn der Mensch sagt, er möchte nicht. Er muss ja nicht. Es kann aber auch über mehrere Stunden gehen, auch über mehrere Termine.

    Welcher Ihrer Fälle blieb Ihnen am meisten im Kopf? 
    DR. ANDREAS KÜTHMANN: Der Fall Karolina20 Jahre Mordfall Karolina: Eine Kripo-Beamtin öffnet ihre AktenWeißenhorn/Neu-Ulm war etwas Besonderes, weil es um ein kleines Kind ging. Das war ein Verfahren, das Eindruck hinterlassen hat und mir immer mal wieder in den Sinn kommt.

    Die Angeklagten Zaneta C. (Zweite von links) und Mehmet A. (Zweiter von rechts) im Mai 2006 bei der Neuauflage des Prozesses um den Tod der kleinen Karolina aus Weißenhorn vor dem Landgericht München II.
    Die Angeklagten Zaneta C. (Zweite von links) und Mehmet A. (Zweiter von rechts) im Mai 2006 bei der Neuauflage des Prozesses um den Tod der kleinen Karolina aus Weißenhorn vor dem Landgericht München II. Foto: Peter Kneffel, dpa (Archivbild)

    Erschrecken Sie manchmal, was der Mensch alles anrichten kann? 
    DR. ANDREAS KÜTHMANN: Nein. Die Bandbreite menschlichen Handels ist sehr, sehr groß. Ich glaube, dass sich ein Mensch unter besonderen Bedingungen so verhalten kann, wie wir es sonst nicht von ihm erwartet hätten. Das gilt mutmaßlich für jeden von uns.

    Auch für Sie?
    DR. ANDREAS KÜTHMANN: Auch ich könnte in einer Grenzsituation Dinge tun, von denen ich heute sagen würde: Nein, das mache ich nicht.

    Der Leiter der Ulmer Staatsanwaltschaft sagte kürzlich, dass zuletzt bei "auffällig vielen Tätern" psychische Vorerkrankungen diagnostiziert wurdenGewalt im öffentlichen Raum: Ulmer
    DR. ANDREAS KÜTHMANN: Man muss zwei Dinge trennen: die Paragrafen 63 und 64 des Strafgesetzbuches. Paragraf 63 regelt die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus. Wenn ein Mensch eine Straftat begangenen hat und diese im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung steht und die Gefahr besteht, dass nochmal etwas Gravierendes passieren könnte. Dann kann er statt ins Gefängnis in eine forensische Klinik kommen. Das sind spezielle Kliniken, die entsprechend ausgerüstet sind. Paragraf 64 regelt die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Wenn jemand eine Straftat im Zusammenhang mit einer schweren Suchterkrankung begangen hat und die auch im klaren Zusammenhang mit der Tat steht sowie die Gefährlichkeit gegeben ist und er motiviert ist, die Erkrankung behandeln zu lassen. Dann kann er statt im Gefängnis in einer Entziehungsklinik untergebracht werden.

    Dr. Andreas Küthmann ist seit vielen Jahren schon Gerichtspsychiater. Bis 2022 war er Ärztlicher Direktor im Bezirkskrankenhaus Memmingen.
    Dr. Andreas Küthmann ist seit vielen Jahren schon Gerichtspsychiater. Bis 2022 war er Ärztlicher Direktor im Bezirkskrankenhaus Memmingen. Foto: Maike Scholz (Archivbild)

    Wie hat sich das entwickelt? 
    DR. ANDREAS KÜTHMANN: Die Unterbringungen nach Paragraf 64 haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Darauf hat der Gesetzgeber reagiert und im Oktober 2023 die Hürde, dass jemand in die Therapie kommt, deutlich erhöht. Die Erkrankung muss jetzt deutlich schwerer ausgeprägt sein. Dadurch wird man erwarten können, dass die Zahl der Untergebrachten nach Paragraf 64 eher zurückgehen wird. Bei Paragraf 63 sind die Zahlen nicht so stark angestiegen.

    Die Attacke mit einem abgebrochenen Flaschenhals an der B10-Unterführung entlang der Blau in Ulm sorgte für Entsetzen.
    Die Attacke mit einem abgebrochenen Flaschenhals an der B10-Unterführung entlang der Blau in Ulm sorgte für Entsetzen. Foto: Alexander Kaya (Archivbild)

    Nimmt die Schwere der Straftaten zu? 
    DR. ANDREAS KÜTHMANN: Das würde ich so nicht sagen. Was ein Problem ist: Wenn bei jemandem in seinem Lebensraum etwas passiert, was unter Umständen sehr beeindruckend ist, folgt rasch die Reaktion: Das nimmt ja zu. Aber wenn man es auf eine größere Umgebung und einen längeren Zeitraum sieht, muss dieser Eindruck nicht bestätigt werden.

    Welche Rolle spielt eine Zunahme von psychisch Kranken in unserer Gesellschaft?
    DR. ANDREAS KÜTHMANN: Haben wir wirklich eine Zunahme oder haben wir mittlerweile eine andere Aufmerksamkeit dafür? Dazu wird viel geforscht. Es gibt auch die Möglichkeit, dass eine psychische Erkrankung heute früher diagnostiziert wird, wo man früher keine diagnostiziert hat. Die zwar da war, aber nicht so benannt worden ist.

    Ist aber nicht jeder, der eine Straftat wie einen Mord begeht, krank? Normal ist das ja nicht? 
    DR. ANDREAS KÜTHMANN: Es ist zumindest außergewöhnlich. Normal ist ein schwieriger Begriff. Was ist Normalität? Das, was die meisten tun? Das ist eine philosophische Frage. Wir tun gut daran, bei einer Straftat nicht immer gleich den Rückschluss zu ziehen: Wenn ein Mensch das tut, muss er krank sein. Die allermeisten, die eine Straftat begehen, sind nicht psychisch krank. Und die allermeisten Menschen, die psychisch krank sind, begehen keine Straftat. Wenn jeder, der eine Straftat begeht, psychisch krank ist, müssten die Gefängnisse alle leer sein und die forensischen Kliniken überquellen. So ist es aber nicht. Wir sollten nie vorschnell urteilen.

    Die pakistanische Gemeinde versammelte sich nach der tödlichen Messerattacke am Ulmer Eselsberg zur Trauerfeier an der Ditib-Moschee in Ulm. Angehörige setzten ein politisches Zeichen.
    Die pakistanische Gemeinde versammelte sich nach der tödlichen Messerattacke am Ulmer Eselsberg zur Trauerfeier an der Ditib-Moschee in Ulm. Angehörige setzten ein politisches Zeichen. Foto: Michael Kroha

    Am Ulmer EselsbergMesser-Mord am Ulmer Eselsberg: Opfer und Täter wohnten unter einem DachUlm kam es jüngst zu einem Tötungsdelikt. Der Verdächtige kam in eine psychiatrische Klinik. Freunde des Opfers fordertenTrauerfeier nach tödlicher Messerattacke: Angehörige fordern mehr SicherheitUlm, er solle ins Gefängnis und "richtig" bestraft werden. Was sagen Sie dazu?
    DR. ANDREAS KÜTHMANN: Wenn eine psychische Erkrankung vorliegt und sie bei der Tat eine Rolle gespielt hat und dann eine Unterbringung nach Paragraf 63 erfolgt, ist sie allein durch die Verhältnismäßigkeit beschränkt. Heißt, es gibt im Vornherein keinen festgelegten Zeitrahmen. Werde ich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, gibt es hingegen einen klaren Zeitrahmen. Dann weiß ich als Betroffener zum Beispiel: Nach sechs Jahren und fünf Monaten werde ich aus dem Gefängnis entlassen. Bei der Unterbringung nach Paragraf 63 ist das nicht so. Da wird nur jährlich überprüft, ob angesichts der Gefährlichkeit und des Standes der Erkrankung eine weitere Unterbringung erforderlich ist. Es kann deshalb sein, dass ich unter Umständen für die gleiche Straftat länger in der Klinik als im Gefängnis bin. 

    Zur Person

    Dr. Andreas Küthmann war bis 2022 Ärztlicher Direktor im Bezirkskrankenhaus Memmingen. Seither konzentriert sich der 62-Jährige auf seine Tätigkeit als Gerichtspsychiater. In seiner Praxis in

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