Fünf Fußbälle liegen auf dem Dach. Sie hängen im Lawinenschutz fest. Fensterscheiben sind kaputt, der Putz bröckelt. Immer wieder gehen Männer in ihren Ganzkörper-Schutzanzügen bei dem Haus in der Bucher Straße in Illerkirchberg ein und aus. Vor der Flüchtlingsunterkunft stehen mehrere kleine Hütchen mit Nummern. Mit Farbe markieren Spezialisten der Polizei wichtige Spuren und machen Fotos von dem Ort, wo am Montagmorgen zwei Mädchen attackiert wurden. Eine 14-Jährige starb später im Krankenhaus. Verdächtigt wird ein 27-jähriger Asylbewerber aus Eritrea. Schon am Nachmittag werden erste Blumen und Kerzen dort niederlegt. Die Tat versetzt eine ganze Gemeinde, die Schulgemeinschaft und die gesamte Umgebung in Schockstarre. Wieder einmal.
"Schlimm", sagt eine ältere Passantin, die ihr Fahrrad vorbei an den Polizeiautos schiebt. Sie wolle eigentlich zum Einkaufen fahren. Doch die Stichstraße, die unter anderem von vielen Schülerinnen und Schülern auf dem Weg zur Grundschule auf dem Berg genutzt wird, ist mit rot-weiß-gestreiftem Flatterband abgesperrt. Handwerker, die auf der anderen Seite des Tatorts gerade eine Hausfassade verputzen, berichten, dass Polizei und Krankenwagen schon da gewesen seien, als sie gegen 8 Uhr gekommen waren. Es sei jemand in den Krankenwagen verladen worden. Ob die Person tot oder schwer verletzt wurde, könnten sie nicht sagen.
Tödliche Attacke in Illerkirchberg: 14-Jährige wurde noch am Tatort wiederbelebt
Es müssen tragische Szenen gewesen sein, die sich in den Morgenstunden im Ortsteil Oberkirchberg abgespielt haben. Nach bisherigen Erkenntnissen soll ein 27-Jähriger gegen 7.30 Uhr aus dem heruntergekommenen Gebäude gekommen sein. Wenige Meter vor dem Haus soll er die 13 und 14 Jahre alten Mädchen vermutlich mit einem Messer angegriffen haben. Die 14-Jährige musste noch am Tatort wiederbelebt werden, so die Ermittler. In der Klinik aber starb sie – trotz aller ärztlichen Bemühungen. Die noch laufende Obduktion soll nähere Hinweise auf die genaue Todesursache geben. Beim Todesopfer handelt es sich um "eine Deutsche mit Migrationshintergrund", wie Polizei und Staatsanwaltschaft am Abend mitteilen. Die 13-Jährige, eine deutsche Staatsangehörige, wurde schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht.
Der mutmaßliche Täter soll sich anschließend in der Flüchtlingsunterkunft verschanzt haben. Die Polizei umstellte das Gebäude mit einem Spezialeinsatzkommando (SEK), das Gebiet wurde weiträumig abgeriegelt. Nach dem Zugriff wurden drei Personen festgenommen, alle Asylbewerber aus Eritrea. Zwei von ihnen wurden auf die Dienststelle mitgenommen. Der 27-jährige Verdächtige kam leicht verletzt in ein Krankenhaus. Dort wird er von der Polizei bewacht. Bei ihm haben die Ermittler nach eigenen Angaben ein Messer gefunden haben, das als Tatwaffe in Betracht komme.
Schockstarre in Illerkirchberg: Was war das Motiv des Angreifers?
Das mögliche Motiv des Angreifers ist bislang unklar. Polizei und Staatsanwaltschaft wollen noch herausfinden, warum es zu dem Angriff kam und ob der Tatverdächtige sowie die beiden Mädchen sich vorher kannten.
Gut eine Stunde nachdem es passiert war, traf Bürgermeister Markus Häußler (parteilos) am Tatort ein. Beim Zugriff der Polizei mit dem SEK wurde er aus dem Gefahrenbereich gebracht. Es sei unklar gewesen, ob womöglich auch noch andere Waffen vorhanden sind. "Tragisch" und "furchtbar" nennt er das, was passiert ist. Die Familie der getöteten 14-Jährigen habe er bereits am Abend besuchen können. Als er davon berichtet, gerät seine Stimme ins Stocken. Er selbst ist Vater von zwei kleineren Kindern. "Als Familienvater geht das durch Mark und Bein", sagt Häußler. Er habe der Familie seine Anteilnahme ausgesprochen und ihnen Hilfe angeboten.
Schulgemeinschaft in Wiblingen geschockt: "Wir sind fassungslos"
An der Schule der Mädchen, der Albert-Einstein-Realschule in Wiblingen, ist die Betroffenheit ebenfalls groß. "Wir sind fassungslos, ringen um Worte und merken doch, wie hilflos wir in dieser Situation sind", schreibt die Schulleitung in einem Brief an die Schulgemeinschaft. Die Gedanken seien bei den Angehörigen. Bis Ende der Woche soll ein Kondolenzbuch ausliegen. "Es soll all jenen, die ihre Trauer in Worte fassen wollen, Raum dafür geben." Der für Mittwoch geplante Adventsmarkt wurde verschoben, stattdessen wir es eine Gedenkfeier geben. In einigen Klassen unterstützt ein Kriseninterventionsteam bei der Trauerarbeit.
Der Bürgermeister suchte am Abend noch einmal den Tatort auf. Zahlreiche Kerzen und Blumen wurden dort zwischenzeitlich niedergelegt. "Das ist furchtbar", sagt ein 72-jähriger Mann, der die Straße entlang läuft. "Furchtbar." Er wohnt ein paar Meter den Berg hoch, das Blaulicht der Einsatzwagen leuchtete morgens durch sein Fenster. "Ich habe mir zuerst nichts dabei gedacht", sagt er. Der Mann ging von einem Unfall aus. Er lebt schon fast sein ganzes Leben in der Gemeinde. Sowas habe er noch nicht erlebt.
"Wir hoffen, dass das ein Einzelfall ist", sagt eine Frau in einer leuchtenden Winterjacke an der Bushaltestelle. Die 37-Jährige ist vor eineinhalb Jahren mit ihrer Familie nach Illerkirchberg gezogen. Sie wartet auf ihre Tochter, die hier gleich von der Schule ankommen soll. Ob sie nun Angst um ihre Kinder hat? "Wenn man Kinder hat, hat man immer Angst."
Halloween-Vergewaltigung in Illerkirchberg "kocht wieder hoch"
Doch es ist nicht der erste Vorfall in der jüngsten Vergangenheit, der die Menschen in Illerkirchberg und näherer Umgebung in Schockstarre versetzt. In der Halloween-Nacht 2019 wurde ebenfalls eine 14-Jährige eine ganze Nacht durch und einen Tag lang von vier Asylbewerbern aus Afghanistan, dem Irak und dem Iran in einer Asylunterkunft in Illerkirchberg vergewaltigt und misshandelt. Sie wurden im März 2021 zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und zwei beziehungsweise drei Monaten verurteilt – je nach Alter und Persönlichkeit wird dabei zwischen Jugend- und Erwachsenenstrafrecht unterschieden.
Der Ort jenen Geschehens damals ist zwar ein anderer als die tödliche Attacke am Montagmorgen. Doch in der Gemeinde "kocht das wieder hoch", weiß Bürgermeister Häußler. Er wurde schon darauf angesprochen. Dass sich nun wieder Menschen mit einer "etwas rechteren Gesinnung" lautstark zu Wort melden, hält er für "nicht angezeigt". "Fremdenfeindlichkeit hat bei uns keinen Platz." Die Tat sei verabscheuungswürdig, nicht der Hintergrund der Person. In erster Linie gehe es zudem darum, der Familie zu helfen.
Auch Ermittler und Staatsanwaltschaft nutzen ihre abendliche Pressemitteilung für einen Appell, wie man ihn eher selten liest. Die Polizei sei sich bewusst, "dass Ereignisse dieser Art Ängste und Emotionen schüren". "Sie bittet daher darum, keinen Generalverdacht gegen Fremde, Schutzsuchende oder Asylbewerber allgemein zu hegen oder solchem Verdacht Vorschub oder Unterstützung zu leisten."
Stadt Ulm verschiebt Sitzung des Ortschaftsrats in Gögglingen-Donaustetten
Die Stadt Ulm hat derweil bereits reagiert. Nachdem jüngst die Polizei bei einer Ortschaftsratsitzung in Gögglingen-Donaustetten anrücken musste, bei der es um die Unterbringung von Flüchtlingen ging, wurde nun die für Donnerstag geplante Sitzung im wenige Kilometer von Illerkirchberg entfernten Ulmer Ortsteil auf einen noch unbekannten Termin im neuen Jahr verschoben. Gleiches gilt für die Sitzungen in Unterweiler.
Oberbürgermeister Gunter Czisch (CDU), dem nach der Halloween-Vergewaltigung von einem AfD-Stadtrat vorgeworfen wurde, er würde die damaligen Taten relativieren und die Schuld dem Opfer zuschieben, sagt zur tödlichen Attacke jetzt: "Der Schock über diese brutale Tat sitzt tief. In dieser Lage ist es für alle Seiten unmöglich und auch nicht zumutbar, eine sachliche Diskussion zu führen." Beiden Familien wünsche er Kraft, die kommenden schweren Wochen und Monate durchzustehen. "Wir trauern mit der Familie des getöteten jungen Mädchens und hoffen, dass das zweite Opfer wieder vollständig gesund wird und keine bleibenden Schäden an Leib und Seele davonträgt."
Ein paar Meter vom Tatort entfernt in Oberkirchberg, wo die Polizei am Abend die Asylbewerberunterkunft mit einer Streife bewacht, wartete eine Frau mit ihrem kleinen Jungen gerade an der roten Ampel. Das Kind hält ein großes Bild in seiner Hand, ein gemalter Hund ist darauf zu sehen. Sie wolle das Geschehen nicht kommentieren, habe mit ihrem Sohn noch nicht über die Tat geredet. Er sei noch im Kindergarten, sagt sie. Dann gehen die beiden über die Straße und davon. "Lassen Sie die Kinder reden", sagt Markus Sautter. Der Notfallseelsorger rät dazu, die Kinder in dem Fall das Tempo für die Aufarbeitung vorgeben zu lassen. (mit dpa)
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