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Burlafingen: Alltäglich und besonders: Walther Collection zeigt "Wer wir sind"

Burlafingen

Alltäglich und besonders: Walther Collection zeigt "Wer wir sind"

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    Die rege Sammeltätigkeit macht die Walter Collection zu einer führenden Sammlung im Bereich der Alltagsfotografie.
    Die rege Sammeltätigkeit macht die Walter Collection zu einer führenden Sammlung im Bereich der Alltagsfotografie. Foto: Florian L. Arnold

    "Wer wir sind" ist der erste Teil einer auf drei Jahre angelegten Ausstellungsreihe in der Burlafinger Walther Collection, die sich mit vernakularer Fotografie beschäftigt – also jener großen Gruppe alltäglicher Bilder, die unser Leben abbilden. Je mehr die Fotografie vom raren Phänomen zum Alltagsbegleiter wurde, umso reger wurden die zahlreichen Anwendungen des Mediums genutzt, etwa für Familienfotos oder Schnappschüsse. Die

    Auch zur Dokumentation, Agitation, Beeinflussung, politischen Auseinandersetzung, Propaganda und in sexualisierten Kontexten wurde das Medium Fotografie schon bald nach seiner Erfindung genutzt. Erstaunlicherweise, so berichtet Kuratorin Daniela Yvonne Baumann, habe die Galerie- und Sammlerszene lange Zeit überhaupt kein Interesse an diesem Sammelgebiet gezeigt. Und Melek Baylas ergänzt: Das fehlende Interesse vieler Sammler und Häuser an der vernakularen Fotografie habe es der Walter Collection ermöglicht, hier führend zu werden. Lässt man die schiere Menge an Fotografien Revue passieren, die man auf dem aus nunmehr vier Häusern bestehenden Ausstellungscampus in Burlafingen sieht, so versteht man nicht nur das Sammlerinteresse von Arthur Walter. Man ahnt auch, warum dieses Feld von Ausstellungshäusern und Sammlungen gemieden wurde – es ist derart facettenreich und unendlich in seinen kreativen Äußerungen, dass es ein wahrhaft unendliches Sammelgebiet darstellt. 

    Zeittypische "Berufs"-Portraits, die Handwerker, Bedienstete und Schausteller zeigen (Beginn 20. Jahrhundert).
    Zeittypische "Berufs"-Portraits, die Handwerker, Bedienstete und Schausteller zeigen (Beginn 20. Jahrhundert). Foto: Florian L. Arnold

    Brian Wallis, der "Wer wir sind" cokuratiert hat, richtete mit seiner Ausstellungsreihe "Imagining everyday Life: Aspects of Vernacular Photography" im damaligen New Yorker Project Space von Walther einen umfassenden Blick auf dieses Sammelgebiet; ein internationales Symposium und ein umfangreicher Katalog (Steidl-Verlag, Göttingen) folgten. Nunmehr also ist die dezidiert nicht-künstlerische Fotografie als Erkenntnisträger über (fast) vergangene oder gewandelte soziale Werte und Lebensformen, politische Ströme und Alltagsrituale im Ausstellungskanon angekommen – und man darf in der Walther Collection mehr als nur einmal verblüfft innehalten.

    Fünf Abschnitte gliedern die Schau, es beginnt im "White Cube" mit "Jenseits des Portraits". Auch wenn manches wie ein klassisches Portrait wirken mag, so offenbart der Kontext die tatsächliche Verwendung. Individuen wurden katalogisiert, erfasst, dokumentiert, sei es im Arbeitskontext, in der polizeilichen Fahndung (so genannte "Mug-Shots"), aber auch zur rassistisch motivierten Kategorisierung, um nur zwei Beispiele zu nennen. 

    Fotos als fragiles Dokument der Vergänglichkeit

    Rund 2000 Fotos, die beim Tsunami 2011 in Japan ins Meer gespült wurden, wurden im Rahmen eines "Lost and Found"-Projektes gesichert; als zugleich fragiles und berührendes Dokument der Vergänglichkeit hält dieses Exponat den Betrachterblick lange gefangen. Gelegentliches Schmunzeln ist aber auch angesagt, etwa bei "Formfotos", die einst sehr populär waren und Fotos in Form von Blüten, Gegenständen oder geometrischen Formen darboten. Oder die leicht absurde Sammeltätigkeit der Fetischisten, die kaum bekleidete Frauen vom TV-Bildschirm abfotografierten und in Sammelalben zusammentrugen – oder auch, wie im "Grauen Haus" zu sehen, sich selbst in mannigfachen Konstellationen inszenierten. Selbstbild und Fremdbild sind hier in stetem Fluss, das Ergebnis war nie für die Öffentlichkeit gedacht, die nun staunend wahrnimmt, das nicht wenige dieser Produkte einen ungeplant künstlerischen Wert offenbaren. 

    Im Obergeschoss des Weißen Hauses wird das Foto als Objekt gezeigt – Portraits als Deko-Objekt, in herzförmigen Aschenbechern oder Standfiguren, hergestellt von Laien wie Profis. Im "Schwarzen Haus" steht das Fotoalbum als Quelle ungeahnter Foto-Schätze im Zentrum. Oftmals, so Daniela Baumann, finde sich in solchen Alben ein hoher Grad der Inszenierung. Idealdarstellungen, schöne Momente, Harmonie und Idealisierung dominieren, wogegen es so gut wie nie kritische oder unschmeichelhafte Abbildungen gibt. 

    Rund 2000 durch den Tsunami 2011 ins Meer gespülter (und wiedergefundener) Fotos aus japanischen Familienalben zieren als Collage die Eingangswand in der Kunsthalle der Walther Collection.
    Rund 2000 durch den Tsunami 2011 ins Meer gespülter (und wiedergefundener) Fotos aus japanischen Familienalben zieren als Collage die Eingangswand in der Kunsthalle der Walther Collection. Foto: Florian L. Arnold

    Im "Grauen Haus" geht es um "Darstellung von Gender und Identität" in Fotos ab dem 19. Jahrhundert: fluide Gender- und Identitätsformen sind keine Erfindung der Gegenwart. Marginalisierte Gruppen stellen sich gehäuft selbst dar, ermächtigen sich, werfen traditionelle Vorstellungen über Bord – in den Grenzen der eigenen vier Wände, für die diese Aufnahmen zumeist hergestellt wurden. Anders hingegen die Abbildungen im "Grünen Haus", die sich mit der "geistigen Kolonisation" befassen. Unbequem sind diese im weißen Europa und Amerika verbreiteten Aufnahmen von afrikanischen Personen zum Zweck der Normierung, Klassifizierung und Ausgrenzung; hier werden die Individuen gegen sich selbst in Stellung gebracht. Brian Wallis nennt sie treffend "Antiportraits". 

    Arthur Walther hat immer gegen den Trend gesammelt und somit zugleich neue Trends gesetzt. Diese Auszüge aus seinem Sammelgebiet setzen fortwährend in Erstaunen. Vernakular bedeutet hier auch, das Unperfekte als das Menschliche und Nahbare wertzuschätzen. Das immer Überraschende und Berührende der Exponate dieser Schau ist die Diversität, das nicht Vorhersagbare und Mehrdeutige. 

    Info: Eröffnung am Sonntag, 9. Juni um 11 Uhr. Führungen durch die Ausstellung um 12, 14 und 16 Uhr. Die Ausstellung ist bis zum 30. März 2025 zu sehen.

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