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Ulm: Wenn der Papa die Mama tötet

Ulm

Wenn der Papa die Mama tötet

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    Wenn Kinder und Jugendliche mit schrecklichen Erlebnissen alleine gelassen werden, rächt sich das im späteren Leben.
    Wenn Kinder und Jugendliche mit schrecklichen Erlebnissen alleine gelassen werden, rächt sich das im späteren Leben.

    Den Super-Gau jeder menschlichen Entwicklung hat die Ulmer Honorarprofessorin Renate Schepker in den vergangenen fünf Jahren zwei Mal erlebt: Wenn Kinder damit fertig werden müssen, dass ein Elternteil das andere getötet hat. Dann zerfällt eine Kinderwelt zu Staub. Die Kinder verlieren nicht nur jedes Gefühl von Geborgenheit sondern im Grunde beide Elternteile. Denn wenn die Mutter ermordet wird, ist der Vater inhaftiert.

    Schepker leitet die bislang einzige Modellambulanz für Kinder und Jugendliche in Baden-Württemberg. Die Einrichtung bei Ravensburg arbeitet eng mit dem Ulmer Universitätsklinikum zusammen. In der Stadt ihrer Kooperationspartner berichtete Schepker zusammen mit Miriam Rassenhofer, Juniorprofessorin in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Ulms, über ihre Erfahrungen.

    Der Super-Gau ist selten

    Der Anlass war ein brandaktueller: Auf Bundesebene soll durch die Reform des Sozialen Entschädigungsrechts die Frühinterventionen per Trauma-Ambulanzen gesetzlich verankert werden. Vor dem Hintergrund dieser Initiativen informierten sich der baden-württembergische Sozialminister Manne Lucha, sowie Rolf Schmachtenberg, Staatssekretär im Bundessozialministerium, über die Forschungstrauma-Ambulanz des Ulmer Universitätsklinikums.

    Der von Schepker erwähnte Super-Gau ist freilich selten. Doch belastende Kindheitserlebnisse und Gewalterfahrungen nicht: „Das hat die Dimensionen einer Volkskrankheit“, sagte die Juniorprofessorin Rassenhofer. Die deutschlandweit erste Studie zum Ausmaß und den Folgen belastender Kindheitserlebnisse wurde in Ulm in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie durchgeführt. Mit dem Ergebnis, dass neun Prozent der repräsentativ ausgewählten Studienteilnehmer eine oder mehrere von vier belastenden Faktoren bejahten. Demnach haben fast zehn Prozent der Bevölkerung seelische oder körperliche Misshandlung oder ein „dysfunktionales“ Elternhaus erfahren. In diese Kategorie zählt nicht nur die Scheidung der Eltern sondern insbesondere Gewalt in der Familie oder Drogen- sowie Alkoholprobleme.

    Selbstmordgefahr ist erhöht

    Die Ulmer Wissenschaftler fanden heraus, dass die Selbstmordgefahr bis zu 30 Mal höher ist, wenn die Kinder mehreren belastenden Faktoren ausgesetzt sind. Die Wahrscheinlichkeit für die Inanspruchnahme einer stationären psychiatrischen Behandlung ist sogar um das 36-fache erhöht.

    In Ulm werden jedes Jahr 100 Kinder- und Jugendliche mit schlimmsten Erlebnissen behandelt. Die Zahlen seien deutschlandweit ziemlich konstant, so Staatssekretär Schmachtenberg. Eine Reform der Gesetzeslage sei also nicht durch eine plötzlich veränderte Situation notwendig, sondern um aus aktuellen Erkenntnissen der Forschung die Schlüsse für Praxis zu ziehen. Und hier sei das Ulmer Universitätsklinikum um Professor Jörg M. Fegert, den Direktor der Klinik für Kinder-und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie und Sprecher des Zentrums für Traumaforschung, führend. Der Gesetzentwurf sieht eine flächendeckende Einrichtung von Trauma-Ambulanzen vor. In einer Studie („Travesi“) konnte eine Forschungsgruppe aus Ulm zeigen, dass eine therapeutische Behandlung innerhalb von drei Monaten nach der Gewalterfahrung zu einer Reduktion der Belastungsymptome führe und so die Ausbildung einer psychischen Störung verhindere. Auch die depressiven Symptome zeigten einen Abfall, blieben aber im behandlungsbedürftigen Bereich. 60 Prozent der Personen, denen frühzeitig geholfen wurde, nahmen aber keine weiteren Behandlungen in Anspruch. Dieser Anteil in den Kontrollgruppen, von Traumpatienten ohne schnelle Therapie, lag zwischen zwölf und 29 Prozent. Das geplante Gesetz wird noch in verschiedenen Gremien beraten, bevor – nach dem Bundestag – auch noch der Bundesrat zustimmen muss. Dass Forschungsergebnisse aus Ulm in bedeutendem Maß in das Gesetz einfließen werden, machte Staatssekretär Schmachtenberg deutlich.

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