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Ulm: Vor hundert Jahren war einer der blutigsten Tumulttage Ulms

Ulm

Vor hundert Jahren war einer der blutigsten Tumulttage Ulms

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    Dieses Foto zeigt die Schäden, die bei den Tumulten vom 22. Juni 1920 im Ulmer Rathaus entstanden sind. Sieben Menschen verloren an diesem Tag ihr Leben, Oberbürgermeister Emil Schwamberger wurde misshandelt.
    Dieses Foto zeigt die Schäden, die bei den Tumulten vom 22. Juni 1920 im Ulmer Rathaus entstanden sind. Sieben Menschen verloren an diesem Tag ihr Leben, Oberbürgermeister Emil Schwamberger wurde misshandelt.

    Es ist erstaunlich, dass das Datum aus dem Gedächtnis der Stadt fast gelöscht ist: Am 22. Juni jährt sich zum 100. Mal einer der blutigsten Tumulttage in der Ulmer Stadtgeschichte. Die Krawalle waren für die unterschiedlichen Akteure vermutlich deshalb nicht erinnerungswürdig, weil sie selbst vielfach durch eigene Fehler und Versäumnisse in die verhängnisvollen Ereignisse verstrickt waren. Ob nun – nach unterschiedlichen Angaben – am 22. Juni 1920 gut 3000 oder bis zu 10000 Menschen Protestaufrufen der Gewerkschaften gefolgt waren, bleibt bis heute unklar. Unbekannt ist auch die Zahl der Verletzten. Gesichert ist die die Zahl von sieben Toten, wobei einer – der 16-jährige Lehrling Eugen Dillenz – ein Passant und damit ein Zufallsopfer war.

    Eigentlich wurden Konflikte in Ulm seit langer Zeit meist friedlich ausgetragen, sagt Ulms Stadtarchivdirektor Michael Wettengel. Den blutigen Krawallen vor hundert Jahren, bei denen auch der Oberbürgermeister misshandelt wurde, gingen gezielte Provokationen voraus. Die Eskalation der Gewalt einer solchen Protestsituation ist ein Beispiel für die Eigendynamik radikaler Proteste. Die Demonstrationen richteten sich damals gegen die miserable Versorgungslage mit Nahrungs- und Heizmitteln und die gewalttätige Menge zeigte keinerlei Respekt vor Autoritäten, berichtet Wettengel.

    Was ist damals in Ulm geschehen?

    Was war geschehen, ehe Demonstranten das Oberamt und das Rathaus in Ulm stürmten? Michael Wettengel schildert, dass zwei Männer, die später in der Stadtgeschichte Ulms respektive Neu-Ulms eine Rolle spielen sollten, mit Demonstranten und mit dem radikalen Symbol einer Galgenattrappe für die Amtsträger vors Rathaus zogen: Der Kommunist Christian Wittmann, auf den der Galgen zurückgehe und der 1923 wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, wurde 1945 von den Amerikanern zum Neu-Ulmer Stadtoberhaupt gemacht, da er als unverdächtig nationalsozialistischen Gedankenguts galt. Sein Kompagnon an jenem 22. Juni 1920 dagegen war der in Ay geborene Wilhelm Dreher, damals Betriebsratsvorsitzender bei der Eisenbahnbetriebswerkstätte Ulm. Dreher trat 1925 in die NSDAP ein, fungierte als Reichsredner und wurde 1933 Staatskommissar für Ulm und Oberschwaben.

    Die später erhobene Behauptung jedoch, dass Kommunisten die blutigen Krawalle organisiert hätte, sei falsch, sagt Michael Wettengel. Zu den Massenkundgebungen war vom Bezirkskartell der Vereinigten Gewerkschaften Württembergs gemeinsam mit dem Landesverband der Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände aufgerufen worden, doch entglitt den Veranstaltern die Demonstration in Ulm. Dabei mag Alkohol zum Teil auch eine Rolle gespielt haben. Bereits am Vortag waren die Händler auf dem Wochenmarkt von der aufgebrachten Menge gezwungen worden, die Preise herabzusetzen. Bei den Kundgebungen am Folgetag, einem Dienstag, wurden Forderungen wie die Sozialisierung von Wirtschaftszweigen und aller Güter, die über eine zu bestimmende Größe hinausgingen, erhoben.

    Ein Irrtum: Der OB lässt Demonstranten ins Rathaus

    In der irrtümlichen Annahme, es handle sich um eine Delegation der Demonstranten, hatte Oberbürgermeister Emil Schwamberger eine Gruppe Demonstranten ins Rathaus eingelassen, die dann auf der Kanzel des Rathauses eine rote Fahne aufsteckten. Demokratische Stadträte versuchten vergeblich, die Menge zur Ruhe zu bringen. Zur absoluten Eskalation kam es, als die für solche Situationen nicht geschulte Polizeiwehr eingriff. Der erste Tote geht auf einen Bajonettstich zurück, andere auf den Einsatz von Schusswaffen.

    Presseberichte aus dem Jahr 1920 schildern, dass sich an den Ausschreitungen vor allem Jugendliche aktiv beteiligt hätten. Die Radikalisierung Wittmanns und Drehers belegen ihre späteren Lebenswege: Wittmann wurde Funktionär der „Roten Hilfe“, so Wettengel, und Dreher machte Karriere im Nationalsozialismus. Was außer menschlichem Leid und der Trauer um die Toten von den Protesten blieb? Ein immenser Vertrauensverlust und eine Entfremdung der Bevölkerung von demokratischen Regierungen, schildert der Stadtarchivleiter.

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