Die Neujahrskonzerte am Theater Ulm sind für viele Menschen eine lieb gewonnene, glanzvolle Tradition. Diesmal aber gibt es, wegen der Corona-Pandemie, stattdessen einen musikalischen Videogruß Ihres Orchesters. Wie hart fiel der Schritt, die Konzerte, das unmittelbare Live-Erlebnis, abzusagen?
Es war sehr, sehr schmerzlich. Mir tut es gerade bei diesen Konzerten besonders leid. Dieses Format war nicht nur für die Zuschauer, sondern auch für mich in jedem Jahr ein Highlight. Fast 10.000 Besucher haben die Konzerte jedes Jahr im Theater erlebt.
Nun also Neujahrsgrüße mit Abstand, ganz digital. Heute, um 18 Uhr, erscheint das Konzertvideo auf dem Youtube-Kanal des Theaters. Was kann denn das Publikum vor dem Bildschirm erwarten?
Wir haben sechs Werke aus dem ursprünglich geplanten Konzertprogramm aufgenommen: Neben Filmmusik und Opernarie ist auch die Uraufführung des neuen Werks „Hope“ von Joo Kraus zu finden. Und natürlich Johann Strauss, der zu einem schwungvollen Neujahrskonzert dazugehört. Wir haben versucht, so viel gute Laune wie nur möglich in das Programm hineinzupacken, als kleines Trostpflaster für alle, die dieses Konzert vermissen.
Theater Ulm: Neujahrskonzert nur für die Kamera
Wie fühlt sich das an, so ein Konzert nur für die Kamera zu produzieren?
Im Grunde läuft so ein Dreh wie eine CD-Aufnahme ab. Jeder Musiker konzentriert sich, fehlerfrei zu spielen, die Musik zu gestalten. Aber die Stimmung ist natürlich nicht mit einem Livekonzert vor Publikum zu vergleichen. Man kann sich das vielleicht so vorstellen wie ein Marathon ohne Zuschauer. Der Marathonläufer zieht auch alleine seine Runden, aber ohne Publikum, die ihn antreiben und anfeuern, die ihm Energie geben. Dieses unmittelbare Feedback fehlt uns so sehr! Für die Produktion mussten wir außerdem sehr genau die Sicherheitsabstände einhalten: 1,50 Meter zwischen den Streichern, und für die Bläser gilt noch mehr Abstand. Darauf musste der Orchesterwart peinlich genau achten, und es erschwert das gemeinsame Musizieren sehr.
Gerade befindet sich das Kulturleben wieder im umfassenden Lockdown. Wie erleben Ihre Musiker diese Spielpause? Wie bleiben sie motiviert?
Wir sehen uns momentan leider gar nicht. Ich kann nur darauf vertrauen – und das tue ich –, dass sich die Musiker zu Hause pflegen und vorbereiten, weiter üben und am Ball bleiben. Das, was unsere gemeinsame Arbeit aber ausmacht, das Teamwork, das Aufeinanderhören und Miteinanderspielen und aufeinander zu reagieren, findet jedenfalls zurzeit nicht mehr statt.
Timo Handschuh: Konzerte vor Publikum wohl frühestens im März 2021
Ab und an war Ihr Orchester doch live zu erleben, etwa bei der konzertanten Zauberflöte oder beim Beethoven-Jubiläumskonzert. Wie fühlt sich so ein Wiederhören und Wiedersehen an?
Die Stimmungslage ist sehr berührend – zwischen großer Wiedersehensfreude und tiefem Abschiedsschmerz. Die Arbeit an Rossinis „Barbier von Sevilla“ zum Beispiel haben wir noch bis zur Hauptprobe Anfang Dezember geführt. Als klar wurde, dass wir wohl in den kommenden zwei Monaten nicht mehr miteinander spielen werden, kam dann diese Traurigkeit und alle haben nochmals wie um ihr Leben gespielt.
Wie viel Weitblick und Planung lässt so eine Pandemie zu? Spekulieren Sie ganz konkret, wann Ihr Orchester wieder auftreten kann – oder ist momentan alles ungewiss?
Die Neuigkeiten überschlagen sich, an jedem Tag gibt es neue Expertenmeinungen zur Pandemie, zu den Impfungen. Da ist die Lage für uns so ungewiss wie für alle anderen auch. Aber realistisch betrachtet: Ich befürchte, dass vor März 2021 kein Bühnenprogramm vor Publikum möglich sein wird. Das klingt nicht gut, ich weiß …
Die Spielzeit 2020/2021 sollte Ihre letzte am Theater Ulm sein, das hatten Sie 2019 so angekündigt. Wie steht es denn jetzt um Ihre persönlichen Zukunftspläne – und wie plant das Theater Ulm weiter?
Hierzu kann ich Ihnen noch gar nichts verkünden, sowohl was meine eigene künstlerische Zukunft betrifft, noch wie es mit der Findung meines Nachfolgers bei den Philharmonikern aussieht. Corona hat hier ziemlich viele Planungen umgeworfen.
Neujahrsgruß mit Timo Handschuh: Timo Handschuh wurde 1975 in Lahr im Schwarzwald geboren und gründete als 17-Jähriger in seiner Heimatstadt ein eigenes Orchester. Er absolvierte ein Kirchenmusikstudium an der Musikhochschule Stuttgart, ein Kapellmeisterstudium an der Musikhochschule Freiburg und war schon früh an der Staatsoper Stuttgart engagiert. Seit 2011 ist Timo Handschuh Generalmusikdirektor am Theater Ulm. Das Konzertvideo der Philharmoniker gibt es heute, am 31. Dezember, ab 18 Uhr im Netz unter youtube.com/user/TheaterUlm und theater-ulm.de, wo das Programm bis 6. Januar 2021 zu sehen ist.
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