Wozu so eine Autohupe gut ist, regelt Paragraf 16, Straßenverkehrsordnung: „Schall- und Leuchtzeichen darf nur geben, wer außerhalb geschlossener Ortschaften überholt oder wer sich oder andere gefährdet sieht.“ Behördendeutsch. Klar und trocken wie der Himmel an diesem Frühsommerabend. Aber das scheint den Menschen im zäh fließenden Autokorso, in der langen Schlange zum Autokino, relativ egal zu sein.
Ein Mann, hinterm Lenker eines schnieken Audis, verliert die Geduld. Er beginnt zu hupen, entnervt, weil sich die Fahrzeugkolonne zum Ulmer Volksfestplatz staut. Eigentlich sollte der Krach doch erst mit dem Konzert beginnen? Hupen statt Applaus? Der Sänger Michael Patrick Kelly – wohl noch bekannter als „Paddy“ von der Kelly-Family – wird auf dem Volksfestplatz auftreten, im Autokino in der Friedrichsau.
Dieses Event hat der Sender Radio 7 mit dem Neu-Ulmer Dietrich-Kino organisiert. Und noch mehr: In drei weiteren Autokinos, in Crailsheim und Friedrichshafen, laufen an diesem Abend Pop-Konzerte über die Bühne. Der Moderator in Ulm verspricht das „erste Festival des Jahres“ – der Corona-Zeit. Es wird ein Abend mit viel Gefühl und Musik, Parkplatzromantik und wohligen „Wir“-Gefühlen.
Auf vielen Motorhauben in Ulm hängen Kelly-Pan-Plakate
In Ulm steht die kleine Bühne neben der gigantischen Leinwand noch leer und verlassen. Paddy Kelly singt erst zum großen Finale und jetzt muss erst einmal die Technik mitspielen: Etwas Gefummel an den Radioknöpfen, bis man die richtige Sender-Frequenz aus den UKW–Wellen herausgefischt hat. Tatsache. Jetzt sieht man ihn nicht nur auf der Leinwand, jetzt hört man auch den Moderator im AutokinoFriedrichshafen, der in Radiomanier loskalauert: „Ihr gebt ein Bild ab, das erinnert mich ein bisschen an einen Gebrauchtwagenhandel.“ Die Kamera schwenkt über Autodächer, man erahnt gut gelaunte, lächelnde Menschen hinter Windschutzscheiben.
Zwei Popstars namens Lotte und Joris beginnen die Show. Ihr Sound schmiegt sich reibungslos an die Gefühlslage dieser Corona-Tage. Deutschpop mit Melancholie, empfindsam bis hochempfindlich und doch mit Funken von Zuversicht. Die rauchigen Stimmen der beiden Sänger, die an getrennten Orten auftreten, ähneln sich sogar. Der helle Tag geht auf sein Ende zu. Die Sonne steht tief über dem Kiesplatz in Ulm, strahlt ein warmes Licht auf die große LED-Leinwand. Wenn Lotte jetzt ihren bekanntesten Hit singt, wenn sie so ganz allein mit ihrer Gitarre „Auf das, was da noch kommt“ anstimmt – dann erzeugt das tatsächlich so etwas wie Schotterplatzromantik. Schlendert man in Ulm durch die Parkreihen, fügt sich der Sound aus Hunderten Autoradios zu einem Klangfeld, die Musik kommt von überall, hier und da schnurrt halblaut ein Motor. In Friedrichshafen darf nicht gehupt werden. Dafür hupt man in Ulm nach jedem Song dreifach zurück.
Kelly-Fan-Plakate liegen schon hübsch drapiert auf vielen Motorhauben. Autos aus GP, KA, HDH parken beieinander und auch Autos aus der Schweiz haben sich eingeschlichen: Berner Kennzeichen, große Flagge mit weißem Kreuz auf rotem Grund. Vor dem Coca-Cola-roten Snack-Wagen hat sich inzwischen eine Schlange gebildet, mit zwei Meter Abstand zwischen den Gruppen, und ein heftig turtelndes Paar fragt sich nach zehn Minuten: „Was gibt es da vorne eigentlich zu kaufen?“ Warten, Anstehen, Abstand halten – Tugenden der Corona-Zeit. Ein Becherchen mit Dip liegt griffbereit auf einem Autodach, und drunter, auf der Ablage über dem Handschuhfach die Schüssel Chips. Eine Frau lehnt sich an ihr Fahrzeug, in der rechten Hand ein Glas Prosecco, in der linken eine Schutzmaske und ein Handy, das sie gleich für ein Selfie zückt. Daneben rückt eine Frau mit Sprühflasche und Lappen an, um eine Windschutzscheibe zu putzen. Man wechselt freundliche Blicke, „Wir“-Gefühle machen sich breit. Es ist wie Samstagabendfernsehen auf einem Schotterplatz, mit einer Prise Festival-Camping-Atmosphäre. Nicht ganz Rock am Ring, aber Pop auf dem Parkplatz. Was sind das für Zeiten?
Autokino-Konzert mit Michael "Paddy" Kelly, Joris und Lotte
Lotte erzählt, dass auch sie, wie zahllose andere Künstler, plötzlich arbeitslos geworden ist. Die Sängerin, 24 Jahre alt, aus Ravensburg, hat Philosophie studiert. Jeder ihrer Songs klingt wie eine Selbstanalyse, ein kleiner Tagebuch-Eintrag. „Ich fühle sehr viel“, sagt die Sängerin und das Gefühl überträgt sich. Der schöne Kitsch dieses Parkplatz-Happenings erreicht einen Gipfel, als Joris in Crailsheim Bill Withers „Lean on Me“ anstimmt – eine Hymne für Zusammenhalt, für das Angebot einer starken Schulter in schweren Zeiten.
Harter Schnitt. Auftritt „Glasperlenspiel“. Das Elektropop-Duo legt los und plötzlich klingt alles nach Rummelplatz und Autoscooter, wie der Soundtrack zur letzten, wildromantischen Halligalli-Stunde, bevor das Volksfest schließt. „Ich wünsch dir noch ein geiles Leben“, trällert Carolin Niemczyk, die Frontfrau, und stolziert zur Musik durch die Autokino-Halle in Friedrichshafen. Sie schreibt Autogramme auf Windschutzscheiben. Sie giggelt: „Das geht nie wieder weg.“ Und wer braucht schon Feuerzeuge, wenn er mit Scheibenwischern winken und per Lichthupe blinken kann? Im Autokino Friedrichshafen, das, zumindest in der Liveübertragung, eher dumpfen Parkhaus-Charme versprüht, blitzen die Scheinwerfern. In Ulm bedienen die Fans die Hupen jetzt mit Volldampf.
Die Besucher im Ulmer Autokino hupen zum Takt
Michael Patrick Kelly betritt die Bühne. Jubel. Fans in er ersten Reihe haben ein Leuchtschild auf ihrem Auto installiert, mit einer Botschaft für den Sänger. „Grüß dich Paddy“, steht da und der Sänger fragt höflich, woher die Grüßenden kommen. „Vom Niederrhein!“, schreit ein Fan über den Platz. Der Sänger lächelt und singt seinen neuen Song: „Beautiful Madness“. Bei seinem Ohrwurm „iD“ bittet Paddy Kelly dann das Publikum um Unterstützung.
Die Fans sollen den Schlagzeuger auf der Bühne unterstützen und hupen zum Takt. Der erste Versuch, im Chor die Anlage für das „Schallsignal“ rhythmisch zu betätigen, schlägt fehl und endet in einer wilden Horn-Arie. Doch dann? Geht es plötzlich. Möp, Möp. Pause. Möp. Alle gemeinsam.
Das Coronavirus hat die Art verändert, wie wir kommunizieren. Wir hupen für Popstars und applaudieren für Menschen in Rettungswagen. Wenn man ehrlich ist: Ob Michael Patrick Kelly, Max Giesinger oder Helene Fischer gesungen hätte, wäre nicht das Entscheidende an diesem Abend gewesen. Es ist das gemeinsame Lichtermeer. Kinder, die sich aus dem Autofenster lehnen und singen. Gemeinsam geht auch mit Abstand. Zuversicht funktioniert auf Distanz. In Lottes Song heißt es: „Auf das, was da noch kommt. Auf jedes Stolpern, jedes Scheitern. Es bringt uns alles ein Stück weiter zu uns.“
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