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Ulm: Selbsthilfegruppe Sternenkinder: Die toten Kinder und die Trauer der Eltern

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Selbsthilfegruppe Sternenkinder: Die toten Kinder und die Trauer der Eltern

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    Sabine Jakob und Manfred Bierer-Jakob am Grab ihrer Tochter Emma-Rosa. Das Ehepaar gehört zum Leitungsteam der Gruppe Sternenkinder Ulm.
    Sabine Jakob und Manfred Bierer-Jakob am Grab ihrer Tochter Emma-Rosa. Das Ehepaar gehört zum Leitungsteam der Gruppe Sternenkinder Ulm. Foto: Alexander Kaya

    Emma-Rosa hat ein Geschenk zum Geburtstag bekommen, wie in jedem Jahr. Ihre Eltern haben ihr drei Herzen aus Metall aufs Grab gestellt. In hellgrün, hellblau und hellrot, mit weißen Tupfen und goldenen Kronen. Emma-Rosa ist gestorben, als ihre Mutter in der 35. Schwangerschaftswoche war. Warum, wissen Sabine Jakob und Manfred Bierer-Jakob bis heute nicht genau. Auf Emma-Rosas Grabstein steht das Datum, an dem sie zur Welt kam: der 6. Juli 2005. Heute haben die Jakobs einen Sohn. „Aber eigentlich sind wir Eltern von fünf Kindern“, sagt Mutter Sabine.

    Das Ehepaar Jakob betreibt ein Reformhaus in Ehingen, die beiden sind bekannt in der 25000-Einwohner-Stadt im Alb-Donau-Kreis. Als Emma-Rosa starb, schalteten sie eine Todesanzeige. Es hatte ja jeder von der Schwangerschaft gewusst. 14 Jahre später sagt Sabine Jakob: „Ich kann darüber erzählen, ohne dass mein Herz blutet.“ Die Selbsthilfegruppe Sternenkinder Ulm hat den beiden geholfen, mit dem Schicksal umzugehen. Heute will das Paar etwas zurückgeben. Die beiden gehören zum Leitungsteam der Gruppe. Sie führen Gespräche mit Eltern, die neu dazustoßen wollen, und sie leiten die Gespräche bei den Treffen.

    Ulmer Selbsthilfegruppe Sternenkinder trifft sich einmal im Monat

    Einmal im Monat kommt die Gruppe in Ulm-Donaustetten zusammen. Dort treffen sich Menschen, die ein Schicksal teilen, die gleiche Erfahrungen gemacht haben und die sich die gleichen Fragen stellen: Was mache ich, wenn meine Trauer mich überkommt? Wie offen darf ich mit meiner Trauer umgehen? Wie lange darf ich trauern? Katrin war von Anfang an dabei. Ihr Nachname und ihr Wohnort sollen nicht in der Zeitung stehen. Ihre Geschichte hat die Mutter dreier lebender Kinder bisher nur wenigen erzählt. Sie sagt: „In der Gruppe darf alles sein, man muss sich nicht erklären: Tränen, Lachen, Wut.“

    Ihre später geborenen Kinder haben Katrin geholfen, mit der Trauer umzugehen. Ihr ältester lebender Sohn erzählte in der Schule von seinem großen Bruder Jonas. „Das war so wohltuend, dass es durch die Kinder so eine Natürlichkeit bekommen hat“, erinnert sich Katrin. Jonas, berichtet sie, war ein absolutes Wunschkind. Die Schwangerschaft verlief unproblematisch, doch bei der großen Untersuchung in der 23. Schwangerschaftswoche bewegte Jonas seine Beine nicht mehr. Diagnose: Spina bifida aperta, offener Rücken. Die Schädigung des Rückenmarks beeinträchtigt Menschen körperlich massiv. Jonas hätte wohl nie gehen können – wenn er die Geburt überlebt hätte. Bis zur 24. Woche kann eine Schwangerschaft in Deutschland straffrei abgebrochen werden. „Das war die schlimmste Woche meines Lebens“, erinnert sich Katrin. Dann fällten sie und ihr Mann ihre Entscheidung: „Wir konnten uns nicht vorstellen, ihn das erleiden lassen zu müssen.“ Später erfuhr Katrin, dass sie eine beginnende Plazentainsuffizienz hatte. Ihr Körper hätte Jonas nicht ausreichend versorgen können. Hätte sie das früher gewusst, sagt die Frau, dann hätte sie ihr Kind entscheiden lassen, wann es gehen will. „Das Schuldgefühl wird immer ein Stück bleiben“, sagt Katrin. Doch sie könne mit der Entscheidung leben.

    Als Katrin in der Zeitung las, dass die Selbsthilfegruppe Sternenkinder Ulm gegründet wird, ging sie zum ersten Treffen. Und merkte, wie viel Last durch die Gespräche abfiel. Katrins Mann fing bald wieder an zu arbeiten. Jahre später erlitt er einen Burn-out – wegen Jonas’ Tod. Er begann eine Therapie, um seine Erlebnisse zu verarbeiten.

    Bei der Selbsthilfegruppe muss man sich nicht verstellen

    Manfred Bierer-Jakob erinnert sich, dass er nach Emma-Rosas Tod oft gefragt wurde, wie es seiner Frau gehe. Auf die Idee, dass auch er leide, sei keiner gekommen. Doch Trauer und Erinnerung begleiten ihn bis heute „Die Unbeschwertheit ist weg. Wenn ich eine schwangere Frau sehe, kann ich mich nicht einfach freuen“, sagt er. Seine Frau Sabine hatte eine Fehlgeburt, dann kam Sohn Florian als Frühchen zur Welt. „Ich dachte, jetzt haben wir alles hinter uns“, erinnert sich die Mutter. Eineinhalb Jahre später war sie wieder schwanger. Die Ärzte entdeckten einen Herzfehler und eine Chromosomenstörung, das Down-Syndrom. Die Jakobs waren sich sicher: „Das schaffen wir.“ Sie bereiteten alles vor, kümmerten sich um die passende Klinik für die nötigen Operationen. Doch dann starb Emma-Rosa. „Gerade, als wir das Nest fertig vorbereitet hatten“, erinnert sich Manfred Bierer-Jakob. Die Vorstellung, das tote Mädchen zu gebären, erschreckte Sabine Jakob. Heute sagt sie: „Die Geburt war schön. Es war gut, sie zu spüren, sie zu gebären, sie anschließend in den Armen zu halten.“ Und dann war da ja noch ihr Sohn, damals 19 Monate alt. „Er war der Grund, jeden Tag aufzustehen und nicht den Tag durch zu heulen. Er hat mich gerettet“, erzählt die Frau.

    Das Ehepaar Jakob und Katrins Familie kannten einander flüchtig. Nach einem zufälligen Treffen auf einem Spielplatz schrieb Katrin den Jakobs einen Brief und lud sie ein, zu den Sternenkindern zu kommen. „Man muss sich nicht verstellen“, sagt Sabine Jakob über den Kreis, dem sie seitdem angehört. „Die Gruppe ist da, wenn man in ein schwarzes Loch fällt. Man lernt, dass alles sein darf und dass es irgendwann nicht mehr so weh tut.“ Der Schmerz kam wieder. Zwei mal wurde Sabine Jakob wieder schwanger, beide Male verlor sie das Kind. „Nach Emma-Rosa war da nur noch Wut“, erinnert sie sich. „Ich habe gefragt: Wieso werde ich überhaupt schwanger, wenn es nicht sein soll?“

    Das Ehepaar fasste durch die Selbsthilfe-Gruppe den Mut, es noch einmal zu versuchen

    Auch Angelika war fünf Mal schwanger, auch sie hat vier Mal ein Kind verloren. Nie blieb das Baby länger als bis zur 14. Woche. „Wir haben keine Namen, wir wissen die Geschlechter nicht“, berichtet die Frau, deren Nachname geheim bleiben soll. Angelika erfuhr von der Selbsthilfegruppe, doch sie scheute sich, hinzugehen: „Ich habe mich gefragt, ob ich hier richtig bin.“ Ihre Kinder waren doch so früh gestorben. Zu einem Zeitpunkt, an dem dieses Schicksal viele Frauen trifft. Dann telefonierte sie mit Sabine Jakob: „Ich habe von mir erzählt, sie hat von sich erzählt.“ Angelika ging zu den Treffen. „Hier haben die Kinder ihren Platz. Es macht keinen Unterschied, in welchem Stadium du dein Kind verloren hast. Das ist etwas, was man aus der Gruppe zieht“, sagt sie. Als ihr Mann Benjamin sah, wie gut die Treffen seiner Frau taten, kam er mit.

    Die Verluste hatten die Partnerschaft der beiden belastet, doch in der Sternenkinder-Gruppe fasste das Ehepaar Mut, es noch einmal zu versuchen. Heute geht Angelika fast immer alleine zu den Treffen in Donaustetten. Benjamin bleibt zu Hause und kümmert sich um die gemeinsame Tochter, die im April 2018 zur Welt gekommen ist.

    Kontakt: Interessierte können per E-Mail unter info@sternenkinder-ulm.de Kontakt aufnehmen. Das Selbsthilfebüro Korn ist unter Telefon 0731/88034410 und über die E-Mail-Adresse kontakt@selbsthilfebuero-korn.de erreichbar.

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