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Ulm: Renate Wagners Gästebücher erzählen von der Geschichte des Theaters Ulm

Ulm

Renate Wagners Gästebücher erzählen von der Geschichte des Theaters Ulm

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    „Wie verrückt muss man eigentlich sein, sich alles anzusehen?“ – diesen humorigen, liebevollen Gruß hinterließ Jörg-Heinrich Benthien für Renate Wagner.
    „Wie verrückt muss man eigentlich sein, sich alles anzusehen?“ – diesen humorigen, liebevollen Gruß hinterließ Jörg-Heinrich Benthien für Renate Wagner.

    Die Theaterbegeisterung seiner Mutter hat Thomas Wagner nicht geerbt. Geerbt hat der Sohn, der im März 78-jährig unerwartet verstorbenen, wohl leidenschaftlichsten Besucherin des Theaters Ulm, aber deren akribisch geführte Fotoalben und die Gästebücher, in denen sich jene Sänger, Schauspieler, Tänzer, Intendanten und Theater-Mitarbeiter in Wort und Bild verewigt haben, die Gäste der von ihr organisierten „Mittwochsgespräche“ waren. Renate Wagner hatte Prinzipien – eines davon war eine rote Rose für jeden Gast. Ein anderes war jene Akribie, mit der sie die Gäste aus dem Theater dokumentierte – und in beschrifteten

    Renate Wagner hat das Leben am Theater Ulm dokumentiert

    „Renate Wagner“ steht in ihrer sauberen Handschrift hinten in jedem der Fotobücher. Daten, Namen, Ereignisse – es ist ein Stück Ulmer Kulturgeschichte, das Renate Wagner in den tatsächlich 65 Jahren gesammelt hat, in denen sie Theaterabonnentin war. Dieses Erbe soll, so will es ihr Sohn Thomas, ins Stadtarchiv und für Interessierte zugänglich sein – wobei die Corona-Pandemie derzeit Gespräche verhindert, die Regelungen schaffen sollen. Denn in den Gästebüchern finden sich viele Eintragungen in Wort, Bild und Zeichnung, die von inzwischen verstorbenen Persönlichkeiten stammen. Gerade in den jüngeren Gästebüchern sind es aber natürlich vor allem

    Die Einträge zeugen von großer Herzlichkeit, von der Freude über die Auszeichnung, eine der roten Rosen erhalten zu haben. Viele Gäste schufen Einträge, die weit über solche Zeilen hinausgingen – es gibt tief philosophische und persönliche, und es gibt auch einzelne Sätze, die sich beispielsweise über den Ulmer Gemeinderat lustig machen. Manch ein Kaffeefleck ziert die Bände – wer immer beim Schreiben und Zeichnen gerade Kaffee trank und kleckerte, das wird ein Geheimnis bleiben.

    in diesen Heften steckt Ulmer Kultur: Renate Wagner ist es gelungen, in ihren Gästebüchern Jahrzehnte Theatergeschichte einzufangen.
    in diesen Heften steckt Ulmer Kultur: Renate Wagner ist es gelungen, in ihren Gästebüchern Jahrzehnte Theatergeschichte einzufangen. Foto: Dagmar Hub

    Pavel Fieber, Angela Denoke und Iva Mihanovic haben Wagner geschrieben

    Den Anfang der Einträge machte Pavel Fieber, Intendant in Ulm von 1985 bis 1991; er starb im Juli, nur vier Monate nach Renate Wagner. Beim Festakt zum 50. Geburtstag des Ulmer Theatergebäudes dürften sich beide im Herbst 2019 noch begegnet sein. Einträge von Opernstars wie Angela Denoke sind zu finden, die ihre Karriere in Ulm begann und deren Weg dann an die Metropolitan Opera nach New York, London, Paris oder an die Bayerische Staatsoper führten. Und der Betrachter begegnet vielen, die er in bestimmten Rollen in Erinnerung hat – Bassbariton Nikolaus Meer ist darunter, Erwin Belakowitsch und Maximilian Schells Witwe Iva Mihanovic, die in Mozarts „Zauberflöte“ einst als Papageno und Papagena begeisterten. Friederike Frerichs, die heute in Berlin lebt, Chris Barber, der inzwischen 90-jährige große Posaunist und Jazzsänger, der so gern nach Ulm kam.

    Die Gesichter und Einträge verstorbener Künstler blicken den Leser an – oft mit noch jungen Zügen: Franziska Stolze, die jung verstorbene Schwester der Schauspielerin Lena Stolze, die unter Intendant Pavel Fieber in Ulm spielte, oder Ulla Willick zum Beispiel, die Renate Wagner in ihrem Eintrag zur Spielplanberaterin machen wollte. Jörg-Heinrich Benthien, 2016 bei einer Probe im Theater Ulm gestorben, widmete den Theaterfreunden einen mit Filzstift gemalten Blumenstrauß mit der Überlegung, dass man ein wenig verrückt sein müsse, um Theater zu machen. Aber: „Wie verrückt muss man eigentlich sein, sich alles anzusehen?“

    „Wie verrückt muss man eigentlich sein, sich alles anzusehen?“ – diesen humorigen, liebevollen Gruß hinterließ Jörg-Heinrich Benthien für Renate Wagner.
    „Wie verrückt muss man eigentlich sein, sich alles anzusehen?“ – diesen humorigen, liebevollen Gruß hinterließ Jörg-Heinrich Benthien für Renate Wagner. Foto: Dagmar Hub

    Walter von Have notierte philosophische Ideen in Renate Wagners Gästebuch

    Die vielleicht philosophischste aller Eintragungen stammt von Schauspieler Walter von Have, der 82-Jährig in Ulm lebt und am Theater große Rollen wie den Milchmann Tevje im Musical „Anatevka“ verkörperte. Er schrieb Renate Wagner im Februar 1999 unter anderem ins Gästebuch, dass es leichter sei, wirklich zu sterben, als den Tod gut zu spielen.

    Berlin, 1959: Renate Wagner (oben links im Bild) feiert ihren 18. Geburtstag – natürlich mit einem Besuch in der Oper.
    Berlin, 1959: Renate Wagner (oben links im Bild) feiert ihren 18. Geburtstag – natürlich mit einem Besuch in der Oper. Foto: Dagmar Hub

    In Ulm und über Ulm hinaus: Ihren 18. Geburtstag feierte Renate Wagner im August 1959 mit einer Fahrt nach Berlin. Wie dieses Wissen erhalten geblieben ist? Mit säuberlichen Einträgen in einem ihrer Alben – und mit den Eintrittskarten. Den US-Film „Windjammer“ sah sie im Sportpalast kurz vor dem Geburtstag, und gleich danach war sie in der Städtischen Oper Berlin – im 2. Rang auf Platz Nummer 34.

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