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Ulm: Premiere von "Ikarus" im Podium: Grotesk und nachdenklich

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Premiere von "Ikarus" im Podium: Grotesk und nachdenklich

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    John von Düffels Auftragswerk für das Theater Ulm „Ikarus“ feierte seine Premiere im Podium im Theater Ulm. Besonders Maurizio Micksch (links, hier mit Markus Hottgenroth in seiner Rolle als Minos) brillierte als Dädalus.
    John von Düffels Auftragswerk für das Theater Ulm „Ikarus“ feierte seine Premiere im Podium im Theater Ulm. Besonders Maurizio Micksch (links, hier mit Markus Hottgenroth in seiner Rolle als Minos) brillierte als Dädalus. Foto: Martin Kaufhold

    Es ist selten, dass die Titelfigur eines Bühnenstückes im Stück gar nicht vorkommt: „Ikarus“, John von Düffels Auftragswerk für das Theater Ulm, spielt nach dem Tod des mythologischen Ikarus, der der Sonne zu nahe gekommen war. Die Rückschau im Podium, in Szene gesetzt von Jasper Brandis, funktioniert über 90 Minuten lang auf geniale Weise: mit leisen, zutiefst nachdenklichen Szenen wie in Stein gehauen, in denen Maurizio Micksch als Dädalus brilliert, und mit grotesken Momenten voll aberwitziger Übertragungen in die Gegenwart, in denen Markus Hottgenroth und Tini Prüfert das macht- und lustgeile kretische Herrscherpaar Minos und Pasiphae geben.

    Das Publikum sitzt in – mehr oder weniger – konzentrischen Ringen um einen schwarzen Zylinder, der als Bühne gerade groß genug ist für einen Menschen. Die Mitte spielte beim großen Erfinder Dädalus eine wichtige Rolle – beim Bau des Labyrinths für den grausamen Minotaurus, bei der Aufgabe, einen Faden durch ein spiralig gewundenes Schneckenhaus zu ziehen. Gespielt wird „Ikarus“ in Petra Mollérus’ Bühnenbild auf Flächen um das Publikum herum, das den Szenen auf den drehbaren Stühlen des Podiums folgt – und in diesem winzigen Zentrum.

    Premiere von "Ikarus" im Podium im Theater Ulm: Es geht um große Fragen

    Um große Fragen von Verantwortung, Schuld und Fluch geht es: Weshalb wird der schöpferische Künstler oder der erfindungsreiche Ingenieur in der Menschheitsgeschichte so häufig zum Diener von despotischen und verantwortungslosen Machthabern? Weshalb kommt er deren Aufträgen auch dann nach, wenn sie neue Methoden der Tötung oder Überwachung von Menschen fordern oder andere perverse Ideen unterstützen sollen? Weil das alles nicht nur in der Vergangenheit geschah, sondern spiegelbildlich in der Gegenwart passiert, lassen von Düffel und Jasper Brandis Dädalus technische Gerätschaften erfinden, die Minos und seine Ehefrau in Verblüffung und Neugier versetzen. Ein Mikrofon? Minos lernt schnell damit umzugehen. Eine Polaroid-Kamera? Wie praktisch, um das Bildnis der schönen Ehefrau mit in die Schlacht zu nehmen. Ein integrierter Schaltplan für ein neues Massenvernichtungssystem, von dem Minos träumt, um vom Wohnzimmersofa aus töten zu können? Dädalus, der über ein „Problemlösungsgehirn“ verfügt, kommt den Forderungen gerne nach. Minos, der die Welt zu Wasser und zu Land beherrscht, möchte auch die Macht über den Bereich der Luft haben.

    Der minoische Sagenkreis um den brillanten Erfinder und Künstler Dädalus, der nach der Ermordung seines ähnlich genialen Neffen Perdix Asyl beim kretischen König Minos erhielt, überträgt sich bei John von Düffel klug auf das 21. Jahrhundert. Damit die philosophischen Fragen nach der Verstrickung von Kunst in die Macht nicht allein das Stück dominieren, setzt Jasper Brandis grelle erotisch-sexuelle Momente und absurde Accessoires, so dass die moralische Frage nach der Verantwortung der Kunst für das, was mit ihr getan wird, in Augenblicke führt, in denen der Zuschauer einfach nur lachen kann.

    Bei der Uraufführung überzeugt vor allem Maurizio Micksch als Dädalus

    Da bringt Minos seiner Gattin, die kurz vor der Geburt des Minotaurus steht, aus der Schlacht Blümchen und eine Schachtel Pralinen mit, und auch die Erfindung der künstlichen Kuh für Pasiphaes Stelldichein mit dem prächtigen Stier des Poseidon lässt dem Unernst jede Menge Raum. Dahinter stehen aber auch die ewigen Fragen nach Schuld und Sühne: Minos hatte den von Poseidon als Geschenk erhaltenen Stier nicht wie befohlen geopfert, sondern ein anderes, weniger wertvolles Tier ausgewählt. Und sind der Absturz und der Tod von Dädalus’ Sohn Ikarus eine Strafe der Götter für das Verbrechen am hochbegabten Perdix, der Dädalus’ Ruhm und Einzigartigkeit hätte beschädigen können?

    Die Freiheit der Kunst ist ein hohes Gut, das oftmals der Künstler selbst aufgibt, indem er sich zum Gehilfen der Mächtigen macht, drückt „Ikarus“ aus. Die Gratwanderung zwischen Moral und aberwitzigem Vergnügen gelingt der Uraufführung im Podium auf außergewöhnliche Art, vor allem durch das großartige Spiel von Maurizio Micksch. Hingehen!

    Die nächsten Aufführungen sind am 9., 11., 17. und 19. Oktober. Am 27. Oktober findet um 10 Uhr in der Neu-Ulmer Petruskirche ein Vis-à-vis-Gottesdienst im Rahmen des Projekts „Theater und Kirche“ statt. Beteiligt sind Dekan Jürgen Pommer und Akteure des Theaters.

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