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Ulm: Performancekunst: Die Neu-Ulmer Putte stellt die Frage nach dem Recht

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Performancekunst: Die Neu-Ulmer Putte stellt die Frage nach dem Recht

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    Till Steinbrenner stemmt die überlebensgroße Fahne: „Du hast recht“. So entsteht in Zeiten von überhitzten Debatten und trotzigen Corona-Demonstrationen eine ganz neue Qualität, sich über Recht und rechte Gedanken zu machen.
    Till Steinbrenner stemmt die überlebensgroße Fahne: „Du hast recht“. So entsteht in Zeiten von überhitzten Debatten und trotzigen Corona-Demonstrationen eine ganz neue Qualität, sich über Recht und rechte Gedanken zu machen. Foto: Veronika Lintner

    Als die Frau unter der Last fast einzuknicken droht, erschöpft vom Schwenken der überlebensgroßen Fahnenstange, im Kampf gegen Wind und Fliehkräfte, da erbarmt sich eine Frau. Die Passantin sieht, wie die Fahnenträgerin mit dem viel zu großen Banner ringt. Sie eilt zur Hilfe. Doch ein Mann kommt ihr zuvor, hält sie davon ab. Axel Städter, Kunsthistoriker und Vorstand des Vereins „Putte“, erklärt ihr freundlich: Das ist Performance-Kunst. Dieser Kampf ist so gewollt. Vor dem Neu-Ulmer Rathaus ringen also zwei Menschen, immer wieder abwechselnd, mit der Fahne. Sie tragen die Aufschrift wie eine Botschaft: „Du hast recht“. „Dieser Satz, dieser Ort, dieser Kampf, das passt alles wunderbar zusammen“, sagt Carolina Pérez Pallares. Sie leitet mit Städter die „Putte“, den kleinen Projekt-Kunstraum der Stadt, und hat diese Performance kuratiert. „Care to be“ heißt die mehrteilige Projektreihe. Städter erklärt, worum es geht: „Was stellen wir uns unter Gemeinschaft vor? Wo befinden sich die Grenzen einer Gemeinschaft? Wann gehöre ich dazu, wann nicht und wieso?“

    Der Aktions-Kunstraum Putte fragt: Was macht Gesellschaft aus?

    Wer eine unangenehme Debatte reibungslos beenden will, oder tatsächlich seinen Standpunkt ändert, der sagt diesen Satz: „Du hast recht.“ Bei der Aktion von Lotte Lindner und Till Steinbrenner geht es aber um eine fundamentale Botschaft, die auch in diesen drei Worten steckt: Du hast recht. Du hast Rechte. Dass das Banner viel zu groß ist, um die gewichtige Botschaft mit einem einzigen Schwung überhaupt lesbar zu machen – das ist Teil des Konzepts, erklärt Städter, der seit zwei Jahren den Aktionsraum leitet.

    Das Recht wiegt schwer, ein Mensch kann es allein nicht stemmen oder erstreiten. Und diese Aktion mischt sich hinein in eine Zeit, in der auf den Straßen und in Medien vehement und ungestüm um Recht diskutiert wird – mit mehr oder weniger kräftigen Argumenten.

    Schüler von Marina Abramovis bieten Kunst vor dem Neu-Ulmer Rathaus

    Das Duo Lindner und Steinbrenner hält sich lieber zurück mit Erklärungen. Fest steht: Sie haben von einer Großen gelernt, sie waren Meister-Schüler von Marina Abramovic an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Abramovic – Star der Szene, Perfomance-Künstlerin der Extreme, schonungslos gegen sich selbst und ihren eigenen Körper, der ihr als Plattform für Experimente und als Draht zur Erkenntnis dient. Und als am Ende der Fahnenstange beiden der Schweiß von der Stirn tropft, der zierlichen Lindner und dem hochgewachsenen Steinbrenner, da löst sich der abstrakte Kampf um Recht in eine körperliche, spürbare Wirklichkeit auf.

    Lindner und Steinbrenner ziehen in 30 Minuten viele Augenpaare und Kameralinsen auf sich. Vor dem Rathaus eine Fahne zu schwenken, mit einer politisch deutbaren Botschaft – das ist öffentlich und kaum zu ignorieren. Wie ein Kontrastentwurf wirkt dagegen die Aktion, die gerade den Kunstraum der „Putte“ erfüllt.

    Die Putter in Neu-Ulm wird zum Raum für Gemeinschaft

    Doris Dziersk hat in London freie Kunst studiert und arbeitet als Bildende Künstlerin und Bühnenbildnerin. Wo sie wirkt, lässt sie die Dinge auf sich zukommen, arbeitet gerne mit dem Kontext und dem Zufall. In Neu-Ulm hat sie öffentlich um Spenden gebeten, um Übriggebliebens um Verzichtbares, das nicht mehr im Gebrauch, aber doch noch gut brauchbar ist. Sie sammelte, plante, baute. „Carolina hat auch noch Nachtschichten an der Nähmaschine eingelegt“, erzählt Dziersk.

    Bei der Premiere erlebt das Publikum aber eine Überraschung: Die großen Fenster der Putte sind verhüllt, nur einzeln oder zu zweit dürfen Zuschauer den Raum betreten. Was sie drinnen erleben: Von allen Wänden hängen bunte Stoffe, grob, fein oder verziert, farblich sortiert nach den Tönen des Regenbogens. Dieses Erlebnis ist, wenn sich der Betrachter nur darauf einlässt, intim und persönlich – und zugleich eine Erfahrung von Gemeinschaft. Dieser Raum gehört dem Besucher allein, zumindest für ein paar stille Minuten. Die Gesellschaft hat ihm diesen Regenbogen geschenkt. Im Raum nebenan hängen Fotos der Spender und hier darf ein zweiter Gast gerne singen – „wenn sie der Person im unteren Raum etwas Gutes tun will“.

    Die Putte (Brückenstraße 2) ist geöffnet am Freitag, 16 bis 20 Uhr, und Samstag und Sonntag, 14 bis 18 Uhr.

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