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Ulm/Neu-Ulm: Selbsthilfegruppen: Das eigene Schicksal in die Hand nehmen

Ulm/Neu-Ulm

Selbsthilfegruppen: Das eigene Schicksal in die Hand nehmen

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    Sie helfen Menschen, die sich selbst helfen möchten: Die Sozialarbeiterin und Sparkassen-Betriebswirtin Christine Lübbers (links) und die Sozialpädagogin Lydia Ringshandl.
    Sie helfen Menschen, die sich selbst helfen möchten: Die Sozialarbeiterin und Sparkassen-Betriebswirtin Christine Lübbers (links) und die Sozialpädagogin Lydia Ringshandl.

    Frau Lübbers, Frau Ringshandl, das Büro Korn hilft Menschen, Selbsthilfegruppen zu organisieren und feiert 30. Geburtstag – unter dem Motto „Selbsthilfe bewegt“. Was hat sich denn bewegt?

    Christine Lübbers: Selbsthilfe hat in den 30 Jahren sehr viel verändert in der Gesellschaft. Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist zum Beispiel mehr auf Augenhöhe, weil viele Leute selbstbewusster geworden sind und offener mit ihren Problemen umgehen. Es hat viele Ebenen. Wenn es jemandem durch ein Gespräch in der Gruppe besser geht, dann hat das auch Auswirkungen auf sein Umfeld. Dann ist zum Beispiel der Partner entlastet. Die Gruppen sind außerdem in doppelter Hinsicht bewegend: Die Gespräche gehen wirklich in die Tiefe und die Teilnehmer bewegen einander. So, dass oft wirklich ein neuer Weg entsteht.

    Sind Selbsthilfegruppen stark mit Vorurteilen konfrontiert?

    Lydia Ringshandl: Die Vorurteile sind da, aber es ist einiges in Bewegung. Wir sehen es in den Anfragen, die über die Jahre steigen. Angehörige oder Ärzte raten den Betroffenen: Ruf’ doch mal beim Selbsthilfebüro Korn an.

    Was tut Korn gegen Vorurteile?

    Lübbers: Wir versuchen, darauf aufmerksam zu machen, was in den Gruppen wirklich geschieht und wir versuchen, das Negative abzubauen.

    Was macht die Gruppen so wertvoll?

    Lübbers: Es ist die Betroffenenperspektive. Die Selbsthilfegruppen können eine therapeutische Behandlung nicht ersetzen, aber sehr gut ergänzen. Es geht darum, Menschen zu treffen, die genau das Gleiche erlebt haben. Die können einander sehr gut verstehen, womit Außenstehende manchmal überfordert sind. Das Erlebte miteinander zu teilen hilft bei der Bewältigung.

    Belastet es die Betroffenen nicht, wenn sie mit weiteren schweren Schicksalen konfrontiert werden?

    Ringshandl: Viele haben Angst, dass das in einer Gruppe passiert. Aber man sieht auch, wie andere im Alltag mit einer schwierigen Erkrankung oder Lebenssituation umgehen. Das ist der Kern: Dass man sich gegenseitig stärkt und sieht, wie die anderen gewachsen sind.

    Gibt es einen wichtigen Schritt, den Betroffene im Kopf vollziehen sollten, um mit besser mit ihren Schwierigkeiten umgehen zu können?

    Ringshandl: Zunächst ist es wichtig, sich einzugestehen, dass man ein Problem hat. Viele tun sich schwer, hier anzurufen und zu sagen, ich komme allein nicht mehr weiter und suche eine Selbsthilfegruppe oder professionelle Hilfe. Aber das ist ein wichtiger erster Schritt. Lübbers: Es gibt viele Menschen, die denken, es ist eine Schwäche, Hilfe anzunehmen. Aber eigentlich ist es eine Stärke. Diese Erkenntnis ist etwas wichtiges. Die Botschaft wollen wir auch in die Gesellschaft bringen.

    Sie helfen, wenn die Organisatoren der Gruppen Unterstützung brauchen. Wo kommen Sie zum Einsatz?

    Lübbers: Wenn Interessierte auf uns zukommen, führen wir ein Gruppengründungsgespräch. Dabei geht um passende Räume, um das Bekanntwerden, um den Ablauf der Treffen. Es ist zum Beispiel empfehlenswert, Regeln aufzustellen. Ganz wichtig ist die Vertraulichkeit. Es geht aber beispielsweise auch um den Namen der Gruppe.

    Ist der Name denn wichtig?

    Ringshandl: Manchen ist es schon wichtig. Viele junge Gruppen wollen sich distanzieren vom Begriff Selbsthilfegruppe und nennen sich zum Beispiel „Treffpunkt“. Lübbers: Es ist wichtig, dass sich die Zielgruppe angesprochen fühlt.

    Sie geben auch Tipps für bestehende Gruppen und bieten Fortbildungen und Supervision an.

    Ringshandl: Für die Fortbildung holen wir externe Referenten und fragen ab, wo Bedarf besteht. Das Thema Datenschutz hat uns sehr beschäftigt, aber auch die psychische Balance im Ehrenamt: Wie kann man gut für sich sorgen und sich abgrenzen, damit es nicht zu viel wird.

    Können Sie ein Beispiel geben?

    Lübbers: Der Gruppenleiter darf sich nicht für alles verantwortlich fühlen. Wenn sich ein neuer Teilnehmer meldet, dem es sehr schlecht geht, kann das erste Telefonat eine Stunde oder noch länger dauern. Da ist es wichtig zu sagen: Ich habe jetzt eine halbe Stunde Zeit, dann dürfen Sie gerne zu uns zum Treffen kommen.

    Worauf kommt es bei Ihrer Arbeit an?

    Ringshandl: Was unsere Arbeit auszeichnet, ist die Vielfalt an Aufgaben. Wir sitzen nicht nur am Telefon und beantworten Anfragen, da hängt auch viel Verwaltung, Beratung und Netzwerkarbeit dran.

    Was müssen Sie können, wenn Sie mit Betroffenen sprechen?

    Lübbers: Auf jeden Fall erfordert es sehr viel Empathie, aber auch gutes Zuhören. Wir müssen herausfinden, wo das Problem eigentlich liegt. Den Hilfesuchenden ist oft gar nicht bewusst, welches Thema sie vorrangig beschäftigt.

    Welche Probleme werden am häufigsten an Sie herangetragen?

    Ringshandl: Das ist sehr unterschiedlich. Oft ist es kompliziert, wenn eine Gruppe einen neuen Leiter braucht, weil einer, der es jahrelang toll gemacht hat, aufhören möchte.
    Lübbers: Von den Gruppenthemen, die nachgefragt werden, ist Depression sehr häufig.

    Wie offen gehen die Gruppenmitglieder mit ihren Schwierigkeiten um?

    Lübbers: Die Ansprechpartner sind in der Regel sehr offen. Viele Teilnehmer dagegen wollen nicht gesehen werden.

    Erleben Sie viele bedrückende Momente, wenn Sie von Sorgen, Leiden und Problemen der Menschen erfahren?

    Ringshandl: Natürlich berührt es mich, wenn ich von einem schweres Schicksal erfahre. Aber ich finde es positiv, wenn ich sehe, ich konnte weiterhelfen.
    Lübbers: Es ist sehr bewegend, welche Schicksale es gibt. Aber es ist auch bewegend, wie die Menschen damit umgehen. Viele leben uns vor, dass man im Leben immer einen Handlungsspielraum hat.

    Was waren besondere Momente, die Sie in Ihrer Arbeit erlebt haben?

    Lübbers: Ich kann keine einzelne Situation herausstellen. Aber es bewegt mich immer wieder, wie die Menschen ihr Schicksal in die Hand nehmen, sich auch für andere engagieren und auch trotz einer Einschränkung ein sehr erfülltes Leben führen.
    Ringshandl: Es ist toll, was da passiert und wie selbstbewusst viele durch die Gruppen werden. Auch Leute, die sich das anfangs gar nicht vorstellen konnten.

    Das Selbsthilfebüro Korn: Die Abkürzung Korn steht für Koordinationsstelle Regionales Netzwerk. Christine Lübbers, 53, und Lydia Ringshandl, 36, die für Korn arbeiten, sind nicht nur für Selbsthilfegruppen zuständig, sondern beraten auch über gesundheitliche und psychosoziale Hilfsangebote in Ulm und den Landkreisen Neu-Ulm und Alb-Donau. Das Selbsthilfebüro ist unter Telefon 0731/88034410 und über die E-Mail-Adresse kontakt@selbsthilfebuero-korn.de erreichbar.

    Serie: Das Büro Korn feiert heuer sein 30-jähriges Bestehen. Unsere Redaktion nimmt das zum Anlass und stellt einige der Gruppen vor, in denen sich Menschen mit ganz unterschiedlichen Problemen und Schicksalen treffen.

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