Nicole Schirmers Wut ist auch durch den Telefonhörer zu spüren. Seit 25 Jahren arbeitet die Köchin in der Gastronomie, sie kennt die Knochenjobs dieser Branche. „Ich habe Kollegen, die sich wegen ihrer Arbeit Schmerzmittel geben lassen müssen“, berichtet sie. Und jetzt das: Angesichts der Corona-Krise hat die Bundesregierung bestimmte Arbeitszeitregelungen gelockert.
In einigen Branchen, zum Beispiel in der Lebensmittelproduktion, dürfen Beschäftigte jetzt länger arbeiten – bis zu zwölf Stunden täglich. Die tägliche Ruhezeit muss nur noch neun Stunden betragen. „Wir haben auch nach der Arbeit noch ein Leben“, schimpft Schirmer. Die Leute, die die Regeln gelockert haben, hätten wahrscheinlich noch nie körperlich gearbeitet. Und da ist noch ein Punkt: In einer Zeit, in der alle besonders auf ihre Gesundheit achten, sollen manche Beschäftigte noch mehr arbeiten? Nicole Schirmer findet das unverantwortlich.
Ulm/Neu-Ulm: Wut und Ängste bei den Beschäftigen
Der gleichen Meinung ist Karin Brugger, Geschäftsführerin der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) für die Region Ulm-Aalen/Göppingen. Sie warnt: Zu viel Arbeit mache krank, die Unfallhäufigkeit steige. Die Versorgung sei gewährleistet, das sehe man in den Supermärkten. Und wenn mal ein Regalfach leer bleibe, liege das meist an den Lieferketten und sei auch nicht wild. Statt den Beschäftigten mehr abzuverlangen, sollten Arbeitgeber zusätzliche Leute einstellen, fordert sie: „Saisonkräfte sind in dieser Branche normal.“
Die NGG vertritt nicht nur die Interessen der Beschäftigten in der Lebensmittelproduktion, sondern auch im Gastgewerbe. Dort sehe es düster aus, berichtet Brugger. Das Mitnahme- und Liefergeschäft decke die Kosten der meisten Betriebe nicht. Die Mitarbeiter, deren Löhne niedrig seien, seien in Kurzarbeit. Das Geld reiche bei vielen kaum zum Leben. Nur ein Betrieb in Ulm stocke das Kurzarbeitergeld auf: das Hotel-Restaurant Seligweiler an der A8. Dort sitzt Nicole Schirmer im Betriebsrat.
Neu-Ulm: Zahlen bei Evobus trotz Corona-Krise und Kurzarbeit "zufriedenstellend"
Während Frauen und Männer aus Schirmers Branche wegen der Belastung um ihre Gesundheit fürchten, haben andere Angst um ihre Jobs. In der Dienstleistungsbranche seien vor allem der stationäre Einzelhandel und die Busunternehmen in Gefahr. So schildert es Maria Winkler, die Geschäftsführerin der Dienstleistungsgesellschaft Verdi.
Die Nöte der Busunternehmer treffen auch einen der größten Arbeitgeber in der Region: Das Neu-Ulmer Evobus-Werk fährt zwar seit Montag den Betrieb nach drei Wochen fast kompletten Stillstands schrittweise wieder hoch. Und Till Oberwörder, Bus-Spartenchef im Daimler-Konzern, nennt die Zahlen des ersten Quartals angesichts der Corona-Krise „wirklich zufriedenstellend“. Im Neu-Ulmer Werk kursieren trotzdem Befürchtungen. „Auf der einen Seite ist die Freude zu spüren, wieder arbeiten zu können. Auf der anderen Seite sind die Ängste: Wie geht es weiter?“, berichtet der Betriebsratsvorsitzende Hansjörg Müller. Er selbst habe das Jahr 2020 schon abgeschrieben, bekennt Müller. Angst habe er vor 2021.
Denn die oft familiengeführten Busunternehmen stünden vielerorts vor dem Aus. Schließlich seien Hotels, Gaststätten, Vergnügungsparks und auch die Grenzen dicht. Pleiten in der Bus-Branche bekämen das Neu-Ulmer Werk und vor allem seine Mitarbeiter schmerzlich zu spüren, fürchtet der Betriebsratsvorsitzende. Er hofft auf die Gesundheitsschutzmaßnahmen: zum Beispiel Abstandsregelungen, mehr Pausenräume, Schutzkleidung, Gesichtsmasken und eine 45-minütige Pause zwischen der Früh- und der Spätschicht. In dieser Zeit würden die Werkzeuge gereinigt. „Im Moment hoffe ich, dass das Hochfahren klappt. Wenn eine zweite Corona-Welle käme, wäre das eine Katastrophe“, sagt Müller.
Evobus-Chef Till Oberwörder: Keine seriöse Prognose möglich
Evobus-Boss Oberwörder gibt sich zuversichtlicher: Im Nahverkehr gebe es ja schon Anleitungen, wie der Gesundheitsschutz umgesetzt werden könne. Und zumindest in Österreich laufe der Tourismus bald wieder an. Seriöse Prognosen könne man aber nicht abgeben, räumt er ein. Im ersten Quartal fiel der Absatz in der Bussparte des Daimler-Konzerns nach Unternehmensangaben rund acht Prozent niedriger aus als im Vorjahreszeitraum. Schwach war das Geschäft demnach vor allem im wichtigen Brasilien und anderen Staaten Südamerikas. In Mexiko und in der EU stieg der Absatz dagegen. Das habe aber auch an den Lieferschwierigkeiten vom Jahresende 2019 gelegen, so Oberwörder.
Umsatz und Gewinn gibt die Daimler-Bussparte nicht mehr separat an. Denn Busse und Lastwagen sind zu einem Geschäftsfeld zusammengeführt worden, für das der Konzern gemeinsame Zahlen veröffentlicht. Bei Daimler Trucks & Buses lag der Umsatz im ersten Quartal bei 8,7 Milliarden Euro (14 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum) und der operative Gewinn bei 247 Millionen Euro (55 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum).
Ulm: Maifeier von DGB und anderen Gewerkschaften auf dem Weinhof fällt aus
Der Gesundheitsschutz gilt nicht nur im Buswerk. Zum ersten Mal seit der Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbunds 1949 gibt es keine Kundgebungen zum Tag der Arbeit. Das gilt auch für die Feier im Ulmer Weinhof. Man könne nicht Abstandsregelungen einfordern und dann eine große Kundgebung veranstalten, sagt Petra Wassermann, Kreisvorsitzende des DGB Südwürttemberg und 1. Bevollmächtigte der IG Metall Ulm. Der DGB-Kreis Neu-Ulm hat seine Forderungen schriftlich verbreitet: Bei der Bezahlung, den Arbeitsbedingungen und der Mitbestimmung gebe es in den Kreisen noch großen Nachholbedarf, so Kreisvorsitzender Elmar Heim.
Die Corona-Krise hat den Gewerkschaftern dringende Aufgaben beschert: etwa Arbeitsplätze sichern und Gewerkschaftsmitglieder beraten, die Verdienstausfälle und andere Sorgen haben. Rund zwei Drittel der 38500 Beschäftigen, mit denen die IG Metall Ulm in Kontakt stehe, seien in Kurzarbeit, berichtet Wassermann. Derzeit erhöhten die meisten dieser Firmen das Kurzarbeitergeld. Doch wenn die Krise länger andauere, gebe es dafür keine Gewissheit mehr. Eine Gewissheit will auch Till Oberwörder den Evobus-Mitarbeitern nicht geben. Dass die Produktion wieder anlaufe, geschehe nicht ohne Grund: „Es gibt den Bedarf.“ Doch in ein paar Monaten könne alles wieder anders aussehen. Pläne für eine weitere Kurzarbeitsphase gebe es nicht. Man beurteile die Situation stets aufs Neue.
Statt einer Kundgebung gibt es am Freitag, 1. Mai, ab 11 Uhr einen Livestream des DGB im Internet, bei dem auch Redebeiträge von Gewerkschaftern und Auftritte von Künstlern zu sehen sind: dgb.de/erstermai
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