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Ulm/Landkreis Neu-Ulm: Corona lässt die Drähte der Telefonseelsorge rund um Ulm heißer glühen

Ulm/Landkreis Neu-Ulm

Corona lässt die Drähte der Telefonseelsorge rund um Ulm heißer glühen

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    Wechsel in der Telefonseelsorge Ulm/Neu-Ulm. Hinter das "alte Team" mit Stefan Plöger und Renate Breitinger, vorne links Silke Streiftau und Claudia Köpf, das "neue Team".
    Wechsel in der Telefonseelsorge Ulm/Neu-Ulm. Hinter das "alte Team" mit Stefan Plöger und Renate Breitinger, vorne links Silke Streiftau und Claudia Köpf, das "neue Team". Foto: Alexander Kaya

    Ein Jahr der Pandemie in Zahlen der Telefonseelsorge ausgedrückt: 87 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, 10.476 Dienststunden, 15.596 Kontakte per Telefon oder Internet mit einer durchschnittlichen Dauer von 26 Minuten und 28 Sekunden. "Corona spielt und spielte eine große Rolle", sagt Stefan Plöger, der 23 Jahre zusammen mit Renate Breitinger die Führungsspitze der regionalen Telefonseelsorge bildet. Nun hören die beiden auf und legen die Verantwortung in die jüngeren Hände von Claudia Köpf und Silke Streiftau. Ein Rück- und Ausblick.

    Der Ort des Büros der Telefonseelsorge Ulm/Neu-Ulm ist geheim

    Wo sich die Telefonseelsorge befindet, ist geheim. Denn ein Grundpfeiler des durch die Dekanate und Kirchenbezirke finanzierten Hilfsangebots ist die völlige Anonymität des Gesprächs - auf beiden Seiten. "Wir wollen nicht, dass die Menschen mit Sorgen hier vor der Tür stehen", sagt Plöger. In Anbetracht eines Einzugsgebiets von einer Million Menschen wäre das ohne Geheimhaltung wohl unvermeidlich. "Corona spielte im vergangenen Jahr eine große Rolle", sagt der Psychotherapeut. Die Pandemie sei so etwas wie die "Stunde der Telefonseelsorge".

    In der ganzen Bandbreite: Von Studenten, denen in der fremden Stadt Ulm/Neu-Ulm wegen Corona die Decke auf den Kopf fällt, über Selbstständige, die ihr Lebenswerk den Bach runter gehen sehen bis zu potenziellen Selbsttötungsgefährdeten. Bei den Anrufen der Kummer-Nummer war im vergangenen Jahr knapp neun Prozent "Suizidalität" der Auslöser. Bei Mails sogar 41, in den Chats per App 31 Prozent. Werte, die im Vergleich mit den Zahlen des Jahres 2019 ziemlich konstant sind. Konstant auch die Dienststunden der 87 auf Extremsituationen geschulten Mitarbeiter. Ausgelastet sei das Team auch ohne Corona. Deswegen lasse sich auch nicht sagen, ob es durch die Sorgen rund um die Pandemie mehr Hilferufe gab. Aber Plöger weiß, dass das teilweise "schlechte Durchkommen" durchaus ein Thema war.

    Telefonseelsorge Ulm/Neu-Ulm: Corona als Verstärker der Probleme

    Was dem Seelsorge-Team auffiel: Die Pandemie habe als "Verstärker" für die ohnehin unter psychischen Erkrankungen leidenden Menschen gewirkt. Wer sich ohnehin öfters einsam fühlt, fühlt sich seit Corona noch einsamer. Und wer unter vielfältigen Ängsten leidet, leidet jetzt auch noch zusätzlich unter Virus-Angst. Knapp 21 Prozent der telefonischen Hilferufe hatten Einsamkeit als zentrales Problem, knapp 18 Prozent eine depressive Stimmung.

    Auch mit Hass, Aggression und sexueller Belästigung haben es die zu zwei Dritteln weiblichen ehrenamtlichen Mitarbeiter der Telefonseelsorge immer wieder zu tun. Es gebe durchaus "rote Linien", die beim Überschreiten zu einer Beendigung des Kontakts führen. Doch ein großes Problem, die den Ablauf des Angebots wirklich stören, seien derartige Anrufe nicht. Oft gelinge es auch nach einer anfänglichen Aggression des Hilfesuchenden den Mitarbeitern, durch geschulte Gesprächsführung, zum Kern des Problems durchzudringen. "Es ist unrealistisch, dass wir Ratschläge geben könne, die alles verbessern", sagt Plöger. Doch manchmal seien es auch kleine Dinge, die viel bewegen. Einen Wunsch hätten alle Anrufer: "Ich möchte eine menschliche Stimme hören. Eine, die mir zuhört." Dieser Wunsch werde erfüllt, was das Potenzial habe, weitere Türen zu öffnen, wenn die Menschen in ihrer Würde ernst genommen werden.

    Das Telefon ist rund um die Uhr besetzt. Tagsüber dauern die Schichten vier Stunden, nachts gibt es eine achtstündige Schicht. Alle mit dem einen Ziel, einen Funken Hoffnung in den Anrufern zu wecken. Wenn gar nichts mehr zu helfen scheint, so Plöger, sei es zumindest der Zuspruch, dass der Anrufer sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. "Sonst hätten Sie ja nicht angerufen." Auch der Versuch, den Anrufer an in der Vergangenheit womöglich gemeisterte Krisen zu erinnern, könne diesen Funken Hoffnung entzünden.

    Ulm/Neu-Ulm: Suizid ist oft ein Thema bei der Telefonseelsorge

    Nachts, so erinnert sich Breitinger an die eigenen Schichten an der Telefonfront, seien die Gespräche am intensivsten. "Das macht wohl die absolute Stille." Das Schlimmste sei es, wenn bei Gesprächen mit Suizidgefährdeten das Gespräch plötzlich abbricht. Die Gedanken, ob sich der Gesprächspartner nun doch etwas angetan hat, lassen die Mitarbeiter nicht los. Auch das sei ein Grund, warum die per einjähriger Ausbildung sattelfest gemachten Telefonseelsorger nicht von daheim aus dem Homeoffice arbeiten. Die Beschäftigung mit den Problemen von Fremden außerhalb der eigenen vier Wände, helfe dabei, diese Sorgen von der eigenen Psyche fern zu halten.

    Längst hat auch die Digitalisierung in der Telefonseelsorge Einzug gehalten. Eine Generation, die bevorzugt mit WhatsApp kommuniziert, macht da in persönlichen Krisensituationen keine Ausnahme. Ein Feld, um das sich das neue Führungsduo verstärkt kümmern will. "Krisenkompass" heißt das in den App-Stores downloadbare Angebot der Telefonseelsorge.

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