Das Ulmer Universitätsklinikum wird wohl noch diese Woche die höchste Fallzahl in der zweiten Welle der Covid-19-Erkrankungen erreichen, was die intensivmedizinische Behandlung angeht. Zu diesen Berechnungen kommt der Ulmer Mediziner Dr. Ulf Dennler, der Leiter der neuen Stabsstelle Strategisches Medizincontrolling am Universitätsklinikum. Ein Katastrophen-Szenario hält der 55-Jährige dennoch grundsätzlich für möglich. Und kann es mit Zahlen belegen.
Für Corona-Leugner hat Dennler keinerlei Verständnis. Mit der gleichen Berechtigung, wie die Gefahr durch das Virus zu ignorieren, könnte man sagen: „Ich glaube nicht an Autounfälle und möchte deshalb keinen Gurt und keinen Airbag.“ Von allen erkannten Neuinfektionen mit dem neuartigen Corona-Virus müssten vier bis fünf Prozent im Krankenhaus behandelt werden.
Etwa 1,7 bis 1,9 Prozent würden schwer krank, müssten auf die Intensivstationen. Dennler rechnet, dass von 83 Millionen Einwohner etwa 60 Prozent für eine Infektion empfänglich sei. Der Rest sei aus vielerlei Gründen immun. Bei 35 Prozent davon würde die Infektion durch einen PCR-Test nachgewiesen. Das heißt: 20 Millionen infizierte mit PCR-Nachweis würde es geben, wenn Deutschland der Ausbreitung des Virus freien Lauf lassen würde.
Davon müssten demnach 1,7 bis 1,9 Prozent auf die Intensivstationen. „Dann hätten wir ein riesiges Problem.“ Das wäre – die Kapazitäten in Deutschland an intensivmedizinischer Betreuung zugrunde gelegt – rechnerisch bundesweit eine totale Überlastung um 20.000 Patienten.
Jeder Covid-Patient binde anderthalb bis doppelt so viel Personal wie normale Patienten. Das heißt, wenn das Personal begrenzt ist, dann geht Kapazität verloren. Sobald der Anteil der Covid-Patienten auf mehr als acht Prozent steigt, muss die Kapazität der Intensiv-Betten reduziert werden. Auch dies führe zu einer erhöhten Sterblichkeit, nicht nur bei Covid-Patienten.
Beratung der Deutschen Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin
Und Dennler muss es wissen, schließlich hat der Intensivmediziner und Anästhesiologe noch im Frühjahr in seiner jüngsten Tätigkeit für die Münchner Kliniken eines der Rechenmodelle in Sachen Intensivbettenbedarf entwickelt, die letztlich zur Ausrufung des Katastrophenfalls in Bayern geführt hätten. Außerdem berät Dennler seit Jahren die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).
Die aktuelle Datenlage sei weit verlässlicher als im Frühjahr zu Beginn der Pandemie. Seine Rechenmodelle habe er nun verfeinert. Die Prognosen seien „sehr robust“. Die Berechnungen Dennlers wiesen zweifellos darauf hin, dass die maximale Fallzahl mit Belegung der Intensivbetten in Ulm in wenigen Tagen erreicht werde. Und dann wieder ganz langsam zurückgehe. Nicht schnell, weil der Lockdown auch nicht hart sei. „Die Politik ist gut beraten, die Maßnahmen nicht zu früh zu lockern.“
Die Uniklinik hat auch die Kreise Neu-Ulm, Dillingen und Günzburg im Blick
Im Augenblick habe das Ulmer Uniklinikum acht freie Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit. Elf Covid-19-Patienten liegen beatmet auf der Intensivstation, insgesamt sind es 18. Das Klinikum habe bei den Prognosen immer den Großraum Ulm im Blick. Inklusive den Kreisen Neu-Ulm sowie Günzburg bis Dillingen. „Wenn wir diese Gesamtregion betrachten, haben wir immer so um die 100 freie Intensivbetten.“ Es sei nicht zu erwarten, dass die Kliniken plötzlich von ganz vielen Patienten überrascht werden. Denn die Ausbreitung der Viruserkrankung erfolge ziemlich genau nach mathematischen Modellen. Es lasse sich gut vorausberechnen, was passieren wird.
So entwickelt sich die Corona-Lage rund um Ulm
Die Kapazitäten an Intensivbetten der Region scheinen ausreichend zu sein. Unkalkulierbar seien nur Großausbrüche in Altenheimen. Die Entwicklung für einzelne Regionen ließen sich nicht zuverlässig prognostizieren. Für Bundesländer hingegen schon, diese Zahlen könnten dann wieder in Bezug zu den regionalen Krankenhauskapazitäten gesetzt werden. Um den 20. November werden laut Rechenprognose in Baden-Württemberg um die 410 Intensivbetten belegt sein. Die Zahl der beatmungspflichtigen Patienten werde voraussichtlich das Maximum um den 24. November mit rund 230 belegten Betten erreichen.
Die Kapazitäten in Ulm sind begrenzt, im Uniklinikum werden derzeit 26 Beatmungsbetten auf der Covid-Intensivstation betrieben. Wenn es eng werden sollte, stehen weitere intensivmedizinische Betten und Beatmungsmöglichkeiten im Universitätsklinikum selbst zur Verfügung. Wenn selbst diese nicht reichen sollten, könnten Patienten auch in weiteren Kliniken der Region versorgt werden, hier bestehen enge Kooperationen. Als es jüngst in Augsburg zu dramatisch hohen Fallzahlen kam – in kurzer Zeit wurden über 30 Covid-Intensivpatienten eingeliefert – sei die Fuggerstadt an die Belastungsgrenze gekommen. „Wir haben den Hilferuf gehört und Patienten aus Augsburg übernommen.“
Die Katastrophe wäre ohne Lockdown gekommen
„Ich hätte die Triage befürchtet, wenn es den Lockdown nicht gegeben hätte.“ Die Zahlen, die DIVI-Präsident Professor Uwe Janssens der Kanzlerin präsentiert habe, kämen unter anderem auch aus seinen Modellen. Die besagten, dass es ohne Lockdown bis kurz vor Weihnachten 8.000 bis 8.500 zu beatmende Covid-19-Patienten gegeben hätte. Die Hälfte der Kapazität. „Da kann man sich leicht ausrechnen, dass es zu Verhältnissen wie in Bergamo mit Triagierung gekommen wäre.“
Es gebe ein sehr, sehr reales Risiko für das Eintreten von katastrophalen Zuständen. Eine unveränderte Reproduktionszahl von 1,4 bis 1,5 Prozent hätte unweigerlich zu schlimmen Szenarien geführt. Nun ist der R-Wert rückläufig. Dennler sieht durchaus eine Trendwende. „Ich hoffe, die Situation stabilisiert sich so bis Anfang Dezember.“ Die zweite Welle sei rückläufig.
In Ulm bleibe es nicht aus, dass wegen Corona Operationen verschoben werden. Aber nur, wenn sich dadurch die Prognose für die Heilung des Patienten nicht verschlechtere und der Leidensdruck nicht zu hoch ist. Nur was aufschiebbar ist, wird verschoben. Dafür gebe es genaue Richtlinien. Es geht weniger um die eigentliche OP, sondern die Betten- und Personalkapazität, die durch Covid-19 gebunden sei. Auf einer Station auf der Covid-19-Patienten behandelt werden, sollten keine Nicht-Infizierten liegen. Dennler rechnet damit, dass der kommende Impfstoff schon im ersten Halbjahr eine deutliche Entlastung bringt. Die Risikogruppen müssten schnell durchgeimpft werden. Weil in großen Teilen nur die ältere Bevölkerung und Menschen mit Vorerkrankungen ernsthaft von Covid-19 bedroht sei, fehle es Jüngeren am Risikobewusstsein. Eine dritte Welle sei auch deshalb möglich.
Das sind die aktuellen Corona-Zahlen im Kreis Neu-Ulm
Die Sieben-Tage-Inzidenz für den Landkreis Neu-Ulm liegt bei 174,65. Insgesamt sind 1933 bestätigte Fälle gemeldet. Von den bestätigten Fällen sind 1527 Personen bereits wieder aus der Quarantäne entlassen, 29 Personen sind gestorben. Von den bestätigten Fällen werden acht Personen in einer Klinik im Landkreis Neu-Ulm betreut, keine davon im Intensivbereich.
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