„Weißt du es noch“ – unter diesem Motto stand das Finale des „Zwischenspiels“, des kurzen Sommerprogramms an Ihrem Theater. Daher die Frage: Wissen Sie noch, mit welchen Hoffnungen und Zielen Sie in die Spielzeit 2019/2020 gestartet sind?
Mit sehr großen Hoffnungen. Es war schließlich eine Jubiläumsspielzeit, vor 50 Jahre wurde dieser großartige Theaterbau an der Olgastraße eingeweiht. Wir hatten ambitionierte Projekte geplant, die zum Teil auch umgesetzt werden konnten, wie „Berblinger, Schneider“ – aber leider nicht die Uraufführung der französischen Oper „La Légende de Tristan“, das war besonders schmerzlich, weil da schon sehr, sehr viel Arbeit investiert wurde. „Weißt du es noch“ ist ein Duett aus der „Csárdásfürstin“, die im Februar ihre Premiere erlebte und fünf, sechs Vorstellungen. Die Operette stieß auf unglaublichen Zuspruch beim Publikum, die Besucherzahlen gingen raketenartig nach oben. Und dann kam der „Interruptus“. Es begann ein sehr schmerzlicher Prozess. Diese Anspielung bedeutet jetzt: „Weißt du es noch“, wie die normalen Theaterzeiten waren?
In dieser Spielzeit konnten Sie große Publikumserfolge feiern, wie „La Cage aux Folles“, „Fidelio“, aber auch Stücke wie „Biedermann und die Brandstifter“, die auf Widerspruch gestoßen sind. Und dann kam die große Pause. Haben Sie in Ihrer zweiten Spielzeit als Intendant das Ulmer Publikum noch einmal ganz neu kennengelernt?
Kontroversen gehören natürlich zum Theater dazu und „Biedermann und die Brandstifter“ hätte bestimmt noch viele Diskussionen ausgelöst. Die Aufführung war meiner Meinung nach handwerklich sehr virtuos gebaut und die Schauspieler waren super. Das Publikum habe ich seit dem Shutdown insofern neu kennengelernt, weil es so leidenschaftlich zum Ausdruck brachte, wie sehr es unter der Theatersperre gelitten hat und leidet. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat es keine vergleichbare Notlage für die Bühnen gegeben. Ich habe sehr viele persönliche Reaktionen erlebt, auf der Straße oder per Mail, die mir gezeigt haben, wie eng die Bindung vom Publikum zum Theater Ulm ist. Der Hunger nach Kultur, nach dem Live-Erlebnis ist groß, das können digitale Angebote nicht ersetzen. Es ist ja entscheidend, dass man gemeinsam die Kunst erlebt und diese ganz eigene Energie im Raum spürt. Wie sehr das vermisst wurde, haben wir gemerkt, als das Zwischenspiel begann.
Kay Metzger, Intendant des Theaters Ulm, erinnert sich an die Corona-Welle
Das Theater befürchtet Einnahmenverluste von rund 1,5 Millionen Euro. Wie sieht denn die Bilanz an der Kasse aus?
Die Treue des Ulmer Publikums spiegelt sich auch wider in der hohen Spendenbereitschaft. Viele haben auf die Rückerstattung ihrer Karten und Abonnements verzichtet. Uns fehlen leider noch die Gesamtzahlen, die Theaterkasse hat immer noch so viel zu tun. Jede einzelne Vorstellung, jede Karte muss in die Hand genommen werden, das kann man nicht automatisieren.
Wie verliefen für sie die entscheidenden Wochen, von den ersten Corona-Schlagzeilen bis zur Erkenntnis: Wir müssen jetzt eine Vollbremsung einlegen und den ganzen Spielbetrieb stoppen?
Diese Viruswelle kam, wenn ich mich zurückerinnere, sehr langsam auf uns zu. Für mich gab es ein Schlüsselerlebnis: Als ich morgens in den Kulturnachrichten las, dass die Mailänder Scala schließen muss, war mir sofort klar, es wird ernst. Wenn solch ein Opernhaus schließt, dann brennt die Luft. Das war aber noch jenseits der Alpen. Bald merkte man, wie diese unheilvolle düstere Wolke, bildlich gesprochen, immer näher auf Deutschland zukam. Dann ging alles plötzlich ganz schnell, wir mussten alle Vorstellungen absagen. Am Theater gab es ein doppeltes Krisenmanagement: Ich habe versucht, künstlerische Szenarien zu entwickeln, damit wir bei einer möglichen Lockerung auch sofort handlungsfähig sind, Verwaltungsdirektorin Angela Weißhardt hat sich mit Hygienemaßnahmen im Theater und der Kurzarbeit befasst. Das Haus war wie alle Behörden eine Zeit lang total gesperrt, man konnte die Theaterkasse nicht kontaktieren, außer per Telefon und Internet. Wir konnten uns glücklicherweise am Krisenmanagement der Stadt Ulm orientieren, und das war sehr gut.
Wie groß war die Hoffnung, doch noch bald auf die Bühnen zurückkehren zu können?
Im April gab es dieses Vakuum, in dem wir gelauert und beobachtet haben, mit Blick auf die kurzfristigen Verlängerungen der Verordnungen. Am Anfang keimte noch die Hoffnung, dass man vielleicht im Mai wieder spielen kann. Aber dann wurde deutlich, dass es aus war mit unserer Jubiläumsspielzeit. Es purzelten alle Großveranstaltungen, ob Oberammergau oder die Bayreuther Festspiele. In Ulm traf es das Schwörwochenende, den Einsteinlauf. Ich war froh, dass wir zum Ende der Spielzeit wieder spielen durften unter speziellen Auflagen. Die muteten zwar ein bisschen absurd an, weil beispielsweise in Zügen und Flugzeugen all diese Maßnahmen anscheinend nicht notwendig sind. Aber gut. Wir durften spielen und ich hoffe, dass wir mit dem Notspielplan ab September und Oktober fortfahren können.
Das Theater Ulm musste auf die Sparbremse drücken
Ein Klischee besagt, dass Künstler in der größten Not besondere kreative Kräfte entwickeln. Stimmt das – oder ist das eine Floskel? Wie lang dauerte die Schockstarre, die Regungslosigkeit?
Regungslos ist keiner von uns geblieben. Es gab kreative Energien in den ersten Wochen: Ensemblemitglieder aller Sparten haben unglaublich schöne, originelle Videos entwickelt, die wir auf der Homepage und auf YouTube veröffentlicht haben – ein Balletttänzer hat Warm-up-Übungen mit Toilettenpapierrollen präsentiert. Das war schon witzig. Ich habe aber ein Problem mit der Erwartungshaltung: Die Kunst soll jetzt mal originell und kreativ auf die Krise reagieren. Kunst ist immer kreativ, aber sie lebt von Freiheit und nicht von Reglementierung. Es gab Theater, die sich gänzlich verweigert haben, andere haben sich um große Originalität bemüht. In Stuttgart begann ein Programm mit viel Verve, aber als Kurzarbeit beschlossen wurde, sagte der Schauspielintendant: Jetzt wird nichts mehr gespielt. Wir am Theater Ulm haben schnell auf die Sparbremse getreten, weil uns klar war, dass Einnahmeverluste in riesigen Größenordnungen auflaufen werden. Es wurde für ganz viele Bereiche Kurzarbeit angemeldet, sodass ein Spagat notwendig war, um die kleinen Formate im „Zwischenspiel“ umsetzen zu können. Ich denke, wir haben das ganz ordentlich hinbekommen.
Viele geplante Inszenierungen sind jetzt auf unbestimmte Zeit verschoben, „Rigoletto“ und „Der zerbrochne Krug“. Wie lang kann man denn solche Werke auf Eis legen? Hoffen Sie, dass Sie die Stücke im Ernstfall schnell auf die Beine stellen können?
Der „Rigoletto“ ist noch bis zur ersten Hauptprobe gekommen, er war schon sehr, sehr gut und sorgfältig vorbereitet. Den werden wir, sobald es keinen Mindestabstand mehr gibt, doch relativ schnell in die Zielgerade führen können. Jasper Brandis hat den „Zerbrochnen Krug“ schon vorbereitet – zwar nicht szenisch, aber mit vielen Leseproben, der ließe sich also auch schnell umsetzen. Auf dem Plan stehen dann auch noch Wiederaufnahmen wie die „Csárdásfürstin“, „Fidelio“, „La Cage aux Folles“. Produktionen, die ab Januar 2021 geplant sind, bereiten wir jetzt mit Bauproben vor und wir entscheiden dann im September, wie es weitergeht. Im Schauspiel lassen sich „Antigone“, aber auch „Hedda Gabler“ im Notfall coronagerecht inszenieren. Wir müssen abwarten und das Virusgeschehen in den Ferien beobachten. Es gibt ja weiterhin extreme Entwicklungen, zum Beispiel in den USA. Wenn wir uns jetzt im Juli schon verrückt machen, bringt das also nichts. Einfach abwarten, was auf dem Ballermann passiert ... da gibt es hohe Unsicherheitsfaktoren, die momentan eher Anlass zur Sorge denn zum Optimismus geben.
Wie würden Sie denn ihr Verhältnis zur Stadtpolitik und Stadtverwaltung in dieser Krisenzeit beschreiben? Es ist ja immer wieder eine Frage, wie stark die Kultur unterstützt wird, in ihren Planungen und finanziell.
Die Stadt Ulm ist extrem professionell und besonnen mit der Situation umgegangen ist. Wir haben aber auch ganz bewusst nicht dauernd im Rathaus angeklopft, weil wir wussten, dass dort alle sehr gefordert oder im Homeoffice waren. Natürlich, der enge Draht zur Bürgermeisterin Iris Mann, der war immer da. Wir haben uns zu Strategiebesprechungen getroffen, um die ganz entscheidenden Fragen zu klären, die dann im Hauptausschuss beschlossen wurden: die Stilllegung der Abonnements für die kommende Spielzeit und die vorläufige Absage des Weihnachtsmärchens. Das waren konstruktive, einvernehmliche Prozesse.
Kay Metzger schildert die Solidarität der Theaterszene in der Coronazeit
Am Ende noch ein herzlicher Glückwunsch: Sie sind kürzlich in den Vorstand des Landesverbands Baden-Württemberg des Bühnenvereins gewählt worden. Wie stark ist die Zusammenarbeit in der Krisenzeit mit anderen Intendanten und Theatern?
Die Szene ist tatsächlich zusammengerückt. Das war für mich eine schöne Erfahrung. Ich hatte schon einige Ämter im Bühnenverein, ich war sieben Jahre im Präsidium, dem höchsten Gremium dieses Arbeitgeberverbands. Mit Amtsantritt in Ulm habe ich mich aus all diesen Ämtern zurückgezogen, um mich ganz auf die Arbeit hier konzentrieren zu können. Jetzt entstand durch den Rücktritt von Peter Spuhler eine Vakanz und man bat mich einzuspringen. Ich glaube, in dieser schwierigen Zeit muss man sich solchen Aufgaben stellen. Aber ungeachtet dessen: Schon im März haben viele Intendanten, aber auch die Verwaltungsspitzen der Theater, sehr viel miteinander telefoniert. Was macht ihr jetzt? Wie geht ihr damit um? Ich habe mich im Grunde mit allen ausgetauscht – mit Kollegen in Augsburg, Heilbronn, Stuttgart, Karlsruhe, Tübingen. Und es hat mich manchmal schon getröstet, dass die Ratlosigkeit am anderen Ende des Hörers auch so groß war wie bei mir selbst. Durch den Austausch mit den Kollegen in Ingolstadt hatten wir auch den Mut, die Abos auszusetzen. Abonnement heißt ja Verlässlichkeit für beide Seiten. Wenn wir nicht verlässlich sein können, aufgrund höherer Gewalt, können wir unsere Abonnentinnen und Abonnenten nicht um Vorkasse bitten für Vorstellungen, die wir möglicherweise gar nicht ansetzen können. Wir hoffen jetzt auf den Freiverkauf und auf den Moment, wo wir den Spielbetrieb wieder richtig hochfahren dürfen.
Kay Metzger, 1960 in Kiel geboren, begann seine Theaterlaufbahn in München als Assistent von August Everding. Als Regisseur inszenierte er unter anderem in Krakau und Danzig. Metzger war Oberspielleiter für das Musiktheater in Coburg und Intendant des Landestheaters Detmold. Seit der Saison 2018/2019 leitet er das Theater Ulm.
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