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Ulm: Ein Wilder kehrt nach 34 Jahren ans Theater Ulm zurück

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Ein Wilder kehrt nach 34 Jahren ans Theater Ulm zurück

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    Dietrich Hilsdorf freut sich auf die Premiere von „Fidelio“; zum Interview hat er aber auch die Programmhefte aus seiner Ulmer Zeit mitgebracht.
    Dietrich Hilsdorf freut sich auf die Premiere von „Fidelio“; zum Interview hat er aber auch die Programmhefte aus seiner Ulmer Zeit mitgebracht. Foto: Marcus Golling

    Als Dietmar Hilsdorf die Programmhefte seiner Ulmer Zeit auf den Tisch blättert, weckt jedes einzelne Erinnerungen. Und fast alle gute. Martin Shermans „Rosa Winkel“: „Da haben sich die Leute aufgeregt“, sagt der Regisseur und schüttelt den Kopf. Brechts „Baal“: „Volle vier Stunden.“ Wedekinds „Frühlings Erwachen“: „Das ist einer der Hits gewesen.“ Und natürlich Arthur Millers „Hexenjagd“: „Das war die Quintessenz aus fünf Jahren Schauspielarbeit in Ulm“, sagt Hilsdorf. Von 1980 bis 1985 arbeitete er unter Intendant Volkmar Clauß als Hausregisseur und Oberspielleiter im Ulmer Theater, 17 Inszenierungen verantwortete er in dieser Zeit. Jetzt, 34 Jahre später, kommt eine 18. hinzu: Beethovens „Fidelio“. Mit der Premiere im Großen Haus wird am Donnerstag, 26. Oktober, die neue Spielzeit eröffnet.

    Dass Hilsdorf wieder in Ulm inszeniert, ist mehr als nur eine Notiz, denn in den vergangenen Jahrzehnten wurde aus dem jungen Schauspiel-Regisseur, der in Ulm mit mutigem Theater Schlagzeilen machte, einer der großen Namen der Oper in Deutschland. Hilsdorf arbeitete mit seinem Team an vielen großen Häusern, in den vergangenen Jahren besonders oft in Düsseldorf, Wiesbaden, Essen, Bonn und Chemnitz. Nur nach Ulm war er bis jetzt beruflich nicht zurückgekehrt. „Mich hat keiner gefragt“, sagt der Mann mit dem weißen Haar und dem weißen Bart und zuckt mit den Schultern. Er habe aber auch so genug zu tun gehabt. Er gilt in der Szene als ein Mann, der Klassiker dekonstruieren kann, ohne sie zu zerstören – und ohne die Figuren die eigene Sichtweise aufzuzwingen, anders als manche seiner Kollegen. Über die wundert er sich ohnehin oft.

    Regisseur Dietrich Hilsdorf sagt lieber "Wurfrichtung" als "Konzept"

    Hilsdorf mag auch das Wort „Konzept“ nicht, vor Probenbeginn kenne er zwar schon eine „Wurfrichtung“, wie er es nennt, der Rest entstehe aber erst bei den Proben, mit seinem Team, mit dem Ensemble. Als er „Die Csárdásfürstin“ in Gelsenkirchen übernommen hatte, habe er zu Beginn der Proben noch nicht gewusst, ob sich die Liebenden am Ende wirklich bekommen. Und als er Wagners „Ring“ in Düsseldorf inszenierte, habe er zu Beginn der Arbeit an „Rheingold“ beschlossen, so zu tun, als ob es die „Götterdämmerung“ nicht gäbe.

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    Ein unerschrockener, wenn es sein muss auch unbequemer Typ, ist Hilsdorf, das merkt man ihm auch mit 70 noch an. Als er 1980 nach Ulm kam, war er ein junger Mann, Anfang 30 – und frisch gefeuert. In Dortmund hatte man Hilsdorf fristlos gekündigt, wegen „Störung des Betriebsfriedens“. Mitten in den Proben zu einem neuen Stück musste er gehen, er bekam dazu noch Hausverbot. Das Angebot aus Schwaben kam also im rechten Moment. Heute sagt er, die Zeit in Ulm sei für ihn „die schönste Theaterzeit“ gewesen. Er erinnert sich an wilde Abende in der Kantine mit viel Alkohol und frisch gekochtem Essen um halb zwei Uhr nachts, an die Menschenkette gegen den Nato-Doppelbeschluss, für die der Theaterbetrieb lahmgelegt wurde, an intensive Proben, auch vor Publikum, und ein enges Verhältnis zu den Menschen in der Stadt. „Wir haben uns um Politik gekümmert, wir haben uns um das Leben gekümmert, wir haben uns um das Theater gekümmert.“ Man habe alles getan, um aufzufallen, sagt Hilsdorf mit einem Lächeln, das sagt: Der Plan ging auf.

    Das Theater hat er mehr als 30 Jahre lang nicht betreten

    Ein klassisches Zeitalter, das mit dem Ende der Intendanz Volkmar Clauß abrupt zu Ende ging. Aber die Protagonisten verloren sich nie aus den Augen. „Wir treffen uns regelmäßig“, sagt Hilsdorf, mindestens alle fünf Jahre, zuletzt öfter, weil angesichts des Alters mancher Ex-Kollegen klar ist: Es geht nicht mehr ewig. Seine jahrelange Kostümbildnerin Renate Schmitzer starb dieses Frühjahr. Hilsdorf hat nie den Kontakt zu Ulm verloren, er kennt die Stadt und viele Lokale. Aber das Theater, das einmal sein Theater war, hat er mehr als 30 Jahre lang nicht betreten. Keiner von Clauß’ Nachfolgern fragte bei ihm an, ob er wieder in Ulm inszenieren wolle.

    Durchbrochen hat diese Barriere der aktuelle Intendant Kay Metzger, obwohl sich die beiden zunächst gar nicht persönlich kannten. Hilsdorf erfuhr indirekt von Metzgers (schon bei seiner Vorstellung im Gemeinderat geäußertem) Wunsch, ihn für eine Inszenierung in Ulm zu gewinnen. Später trafen sich die beiden Theaterleute, in einem Bäckerei-Café in Rheda–Wiedenbrück, irgendwo in Westfalen zwischen Düsseldorf, wo Hilsdorf arbeitete, und Detmold, wo Metzger damals Intendant war. Der Kontakt war auf Anhieb gut, „wir hatten schnell das Stück besprochen“.

    Es wurde „Fidelio“, ein großes Werk zum Jubiläum des Theaterbaus – und ein vorgezogener Beitrag des Theaters zum 250. Beethoven-Geburtstag 2020. Bei aller Verehrung für den Meister: An „Fidelio“ scheiden sich die Geister. Musikalisch sicher ein Meisterwerk, heißt es, aber inhaltlich nicht aus einem Guss, zuerst heiteres Singspiel, dann tragische Oper, am Schluss beinahe Oratorium. „Fidelio“ handelt von der Frau Leonore, die sich als Mann verkleidet, um ihren zu Unrecht eingekerkerten Gatten aus dem Kerker zu befreien, Happy End inklusive. Eine Kolportage-Geschichte, findet Hilsdorf, der deswegen die ganze Inszenierung ein Lustspiel vor dem Hintergrund des Biedermeier sein lässt. „Wir haben versucht, ‚Fidelio‘ mal nicht als großes Welttheater zu machen, sondern so, als sei es eine Oper von Lortzing.“ Und Hilsdorf findet Albert Lortzing, den Schöpfer von „Der Wildschütz“ oder „Zar und Zimmermann“, großartig. „Wir spielen Komödie – im Sinne von Shakespeare.“

    "Fidelio" in Ulm: Statt der üblichen Ouvertüre erklingt "Leonore"

    Im Theater Ulm ist eine eigene Fassung von „Fidelio“, das schon Beethoven mehrfach umgearbeitet hat, zu sehen. Statt der üblichen Ouvertüre der vierten Fassung erklingt zum Auftakt die auch als „Leonore“ bekannte der dritten. Dazu haben Hilsdorf und Generalmusikdirektor Timo Handschuh zwei später gestrichene Nummern aus der Urfassung wieder aufgenommen, das Terzett „Ein Mann ist bald genommen“ und das Duett Marzelline-Leonore. Länger wird „Fidelio“ dadurch nicht, denn die gesprochenen Dialoge hat der Regisseur (wie schon bei früheren Inszenierungen) komplett gestrichen, die Texte seien „so etwas von unsäglich“.

    Dietrich Hilsdorf wird den Ulmern einen „Fidelio“ geben, den man so an einem mittleren Stadttheater vielleicht nicht erwarten würde. Aber beim Personal setzt er überwiegend auf das Ensemble, nur die Partie der Leonore übernehmen mit Erica Eloff und Susanne Serfling komplett zwei Gast-Sopranistinnen. Hilsdorf ist begeistert von den Ulmer Sängern, und auch der „nur“ mit 32 Sängern besetzte Chor klinge viel besser, als er es erwartet hatte. Hilsdorf strahlt. Die Arbeit am Haus sei für ihn wie ein Jungbrunnen. Auch nach 34 Jahren hat Ulm auf den Regisseur offenbar eine besondere Wirkung.

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