Shneur Trebnik weiß noch, wie klein seine Träume vor 20 Jahren waren. Heute ist der Rabbiner zuversichtlicher, seine Hoffnungen sind größer geworden. Nach einem regelmäßigen Gottesdienst, für den es zehn Beter braucht, hatte sich Trebnik gesehnt. Heute wünscht sich der jüdische Geistliche, dass die 140 Sitzplätze fassende Synagoge regelmäßig voll besetzt ist. Das jüdische Leben in Ulm, sagt Trebnik, habe seit den Novemberpogromen 1938 bis zum Jahr 2000 eine Pause gemacht. Nun sei es wieder Teil der Stadtgesellschaft.
Für die Stadt, den Gemeinderat und den Oberbürgermeister sei das immer eine Selbstverständlichkeit gewesen, berichtet Trebnik. Das habe die jüdische Gemeinde gespürt. Die Frage, ob das jüdische Leben zur Stadt gehört, bekomme er aber noch immer gestellt. Es ist eine Frage, die Shneur Trebnik lieber nicht mehr hören würde. Denn in dieser Frage schwinge auch ein kleiner Zweifel mit. Und deswegen sieht der jüdische Geistliche das Jubiläum seiner Gemeinde vor allem als wichtiges Datum für die Stadtgesellschaft. Dass das religiöse jüdische Leben schon seit 20 Jahren zurück ist in Ulm, sei ein Beweis dafür, dass es wieder fest zur Stadt gehöre.
Die jüdische Gemeinde ist seit 20 Jahren zurück in Ulm
Für Trebnik selbst ist es ein kleiner, aber wichtiger Schritt in der neuen jüdischen Geschichte Ulms. Die wichtigsten Schritte? Trebnik lacht: „Die Liste ist lang.“ Es sind nicht nur die großen, nach außen wirkenden Momente, denen der Rabbiner besondere Bedeutung beimisst. Als er anfing, hatte er einen Vertrag für zwei Jahre, mit sechs Monaten Probezeit. Zum Beten traf sich die Gemeinde mal in seiner privaten Wohnung, mal bei anderen Gläubigen. 2002 bezog die Gemeinde ihre ersten eigenen Räume in einer früheren Wohnung in der Neutorstraße. „Eine feste Adresse zu haben, war für uns ein wichtiges Zeichen“, sagt der Rabbiner.
In der ersten festen Adresse wurde es der Gemeinde bald zu eng für vier Gottesdienste, den Religionsunterricht und die Kinderbetreuung. Die Ulmer Juden begannen, wieder von einer Synagoge zu träumen. Die alte war bei den Novemberpogromen 1938 zerstört worden. Die entscheidende Idee, erinnert sich Trebnik, kam dann von Martin Rivoir, der schon damals für die SPD im Gemeinderat und im Landtag saß. Wie genau er auf den Weinhof kam, weiß Rivoir selbst nicht mehr. Manche Details aber hat er noch genau im Kopf: „Die Planungen starteten in Ulm und die Stadt hatte der Gemeinde ein Grundstück in der Wildstraße angeboten, in der Nähe des Karlsplatzes. Ich fand den Standort nicht prominent genug.“ Rivoir schlug den Weinhof vor. Der Platz vor dem Schwörhaus war in Richtung Sparkasse offen, doch ein Wohn- oder Geschäftshaus als Begrenzung schien unvorstellbar. Für Rivoir war eine Synagoge dort ideal, im Herzen Ulms und unweit des Standorts des alten jüdischen Gotteshauses. „Es ist ein Zeichen der Stadtgesellschaft im Gedenken an den Zweiten Weltkrieg und die Schoah“, sagt Rivoir. Dass die jüdische Gemeinde zurückgekehrt ist, sieht er als Zeichen der Versöhnung.
Bau und Einweihung der Neuen Synagoge am Weinhof in Ulm waren besondere Ereignisse
Für Oberbürgermeister Gunter Czisch ist die Synagoge am Weinhof ein weithin sichtbares, schönes Zentrum inmitten der Stadt. „Für mich ist die Synagoge das deutlichste Symbol dafür, dass jüdisches religiöses Leben wieder seinen Platz in unserer Stadtgesellschaft hat“, sagt er. Das damals einstimmige Votum des Gemeinderats für den Bauplatz an der prominenten und auch für die jüdische Gemeinde bedeutsamen Stelle sei ein starkes Willkommenssignal gewesen. Er freue sich, dass das Signal angenommen worden sei.
Die Basis für die heutige jüdische Gemeinde legten sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge, die ab 1992 als Zuwanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion kamen. Anfangs zählte die Gemeinde 89 Gläubige, heute sind es etwa 500. Aus Sicht von Rabbiner Trebnik hat das Wachstum viele Gründe: „Die Menschen, die hier wohnen, fühlen sich wohl. Ulm und die Umgebung haben etwas zu bieten. Und sie sind gern teil unserer Gemeinde. Auch die Synagoge ist ein wichtiger Punkt“, führt er aus.
Ulm: Rabbiner Shneur Trebnik träumt von voll besetzten Gottesdiensten in der Neuen Synagoge
Wieder die Synagoge. Im März 2011 war der Spatenstich, im Dezember 2012 wurde sie eingeweiht. Heute ist sie nicht nur der Mittelpunkt des jüdischen Lebens, auch Führungen durch das Gotteshaus sind gefragt. Die 140 Sitzplätze schienen manchen bei der Eröffnung übertrieben. Doch 70 bis 80 Gläubige, berichtet Trebnik, kämen regelmäßig. Er träumt von mehr, von voll besetzten Gottesdiensten am Wochenende. In Corona-Zeiten ist daran freilich nicht zu denken. Doch auch jetzt kommen an einem normalen Montagmorgen mehr als 20 Juden zum gemeinsamen Beten in die Synagoge. Und deswegen sagt Trebnik über seinen Traum von voll besetzten Gottesdiensten: „Ich denke, das ist realistisch.“
Corona hat durch die Abstandsregeln nicht nur den Platz in der Synagoge verringert, sondern auch Pläne platzen lassen. Eigentlich wollten die Ulmer Juden den 20. Geburtstag ihrer Gemeinde im März feiern, dann verschoben sie das Fest auf Ende Juni. Beide Termine mussten abgesagt werden. Rabbiner Trebnik, der selbst Freunde und Verwandte durch die Virus-Erkrankung Covid-19 verloren hat, kann das verschmerzen: „Es ist eine Weltkrise, im Vergleich dazu ist eine Feier klein.“ Auf das Fest habe er sich gefreut, aber man werde einen anderen Tag dafür finden.
20 Jahre Jüdische Gemeinde Ulm: Glückwünsche von Gunter Czisch, Martin Rivoir und Dekan Ulrich Kloos
Ulrich Kloos ist Pfarrer in Wiblingen, Leiter des katholischen Dekanats Ehingen-Ulm und gemeinsam mit Trebnik Sprecher des Ulmer Rats der Religionen. Er habe Freunde eingeladen für das Konzert mit jüdischer Musik, das bei den Feierlichkeiten zum 20-jährigen Bestehen gespielt werden sollte, berichtet Kloos. Jetzt hofft auch der katholische Geistliche auf einen neuen Termin. „Der Bezug zu Gott ist etwas Wichtiges, egal in welcher Religion. Echter, unverkrampfter Glaube tut der Gesellschaft gut“, sagt der katholische Dekan. Und diesen unverkrampften Glauben sehe er bei der jüdischen Gemeinde. Den Umzug durch die Stadt zur Einbringung der neuen Tora-Rolle vor etwas mehr als zweieinhalb Jahren zum Beispiel habe er beeindruckend gefunden. Die jüdische Gemeinde, sagt Kloos, sei ein selbstverständlicher Teil der Stadtgesellschaft. Und die Zusammenarbeit mit Shneur Trebnik sei gut und vertrauensvoll.
Der Rabbiner indes macht sich Sorgen um die Gesellschaft, zu der seine Gemeinde fest gehört. Er wünscht sich mehr Respekt, nicht nur vor den Religionen. Auch vor Polizisten oder Ladenbesitzern, deren Geschäfte bei der Randale in Stuttgart vor Kurzem verwüstet wurden. Er höre auch die Stimmen derer, die sich gegen Juden aussprechen. Es seien nur wenige, aber sie seien lauter geworden. Trebnik sagt: „Das ist kein Problem der jüdischen Gemeinde, es ist ein Problem der Gesellschaft. Das sollte man nicht ignorieren.“
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