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Neu-Ulm: In der Nacht der Pandemie: „Die Zeit so still“ von Florian L. Arnold

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In der Nacht der Pandemie: „Die Zeit so still“ von Florian L. Arnold

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    Florian L. Arnolds Novelle befasst sich mit einer Pandemie.
    Florian L. Arnolds Novelle befasst sich mit einer Pandemie. Foto: Nik Schölzel

    Geht es nach der allgemeinen Lehrbuchmeinung, so braucht ein Text, der sich Novelle nennt, vor allem eines: ein unerhörtes, seltsames Ereignis. Die neuste Erzählung des Ulmer Autors Florian L. Arnold, „Die Zeit so still“, bietet gleich zwei Vorfälle dieser Sorte.

    Ereignis Nummer eins: Eine Pandemie ist ausgebrochen und legt die Welt lahm. Aber wie unerhört ist das schon? 2019 noch eine Dystopie, heute Realität. Ereignis Nummer zwei aber: Einer nimmt aus der jahrelangen Zwangsquarantäne Reißaus. Unerhört. Diese Geschichte führt durch eine Stadt ohne Namen, wie eine Spazierfahrt in der Nacht der Quarantäne, in der sich bald zwei Menschen begegnen. Existenziell und psychologisch, sprachmächtig und konzentriert. Ein Buch zur Stunde.

    Florian L. Arnolds Novelle dreht sich um Lockdown in der Pandemie

    Die ersten 40 Seiten schrauben das zwischenmenschliche Thermometer dieser fiktiven Welt auf null herab. Schockstarre. Der Held, ein Mann, erzählt von seinen Erinnerungen. Erinnerungen an ein schöneres Leben, die langsam verblassen und das markiert der Autor, wenn Sätze mit drei Punkten im Nichts versanden. Die Erinnerungen führen in die Zeit, in der das Elend begann und aus den Fugen geriet.

    Dies ist nicht Orwells 1984. Der fiktive Überwachungsstaat ist nicht aus Willkür, aus Gier nach Macht geboren, sondern aus Zwang. Die Regierung hat mit Schlössern alle Haustüren verriegelt und Eltern von ihren hoch ansteckenden Kindern getrennt, sie verbreiten das tödliche Virus. „Wo sind die Käfigstäbe, um an ihnen zu rütteln und sie aufzubiegen? –“, denkt sich der Held, als er nun ausbricht. Dabei war er selbst einst einer der Hoffnungsträger, der an einem Mittel gegen den Erreger forschte. Wie Fackeln in der Dunkelheit ziehen jetzt nur noch leere Straßenbahnen durch menschenverlassene Straßen, um einen Schatten von Normalität vorzutäuschen.

    "Die Zeit so still" spielt in der Nacht, in Zeiten einer Pandemie

    Die Geschichte nimmt erzählerisch Farbe und Fahrt auf, als der Ausgebüchste – mit Herzklopfen – in eine der Geisterstraßenbahnen steigt. Wird ihn der Fahrer verpetzen, an die Wächter der Quarantäne? Die Spannung hält sich über die kommenden 60 Seiten. Der einsame Straßenbahnfahrer entpuppt sich aber als ein fabelhafter Erzähler. Einer, den die Not nicht verhärmt hat, sondern in die Welt der Sprache getrieben hat. Er erzählt und erzählt, weil es ihm ein Bedürfnis scheint. Und weil ja sonst niemand einsteigt, der zuhören könnte. Seine Geschichte beginnt mit dem nun verblichenen Leben der Stadt – „Der Lärm, das Rauschen, die hellen Nächte, der Benzinduft, Morphium, Überfall, Begaunern, Krach und Versöhnung, die Avantgarde ...“ – und endet in den letzten Tagen des Widerstands auf der Straße, gegen den totalen Lockdown. Brutal.

    Seine Sprache funkelt aber dann am hellsten, wenn er paradiesisch die Rückkehr der wilden Natur in dieser Stadt beschreibt. Wie Pflanzen und Tiere die Reste der Zivilisation überwuchern, überleben. Ein hinterlistiges Idyll von umrankten Ruinen und Vogelgezwitscher. Eine Welt ohne Menschen – da stöbert auch der Fahrgast in den düstersten Ecken seiner Gedanken: Wollen wir, dass alles wird wie zuvor, nach dem Virus? Wie wäre es, „eine Normalität zu verhindern, die mir niemals gefallen hatte“, fragt sich der Gast.

    Florian L. Arnolds Novelle "Die Zeit so still" legt literarische Fährten

    Wie eine Parallelmontage im Film, ziehen sich über den Rand jeder Seite Notizen – Verfolgungs-Protokolle im Polizeifunkstil. Der Staat bleibt wach, er sieht den Flüchtigen. Dazu gesellen sich literarische Schnipsel am Rande, Fährten und Farbtupfer, von James Joyces Ulysses bis hin zu Hunden, die wie Zerberus aus der Nacht erscheinen.

    Auch ohne diese literarischen Fährten zu verfolgen, bleibt die Novelle ein Spracherlebnis in ihren besten Momenten. Der Kick dieser Geschichte liegt nicht in der Idee an sich. Die Pandemie wird wohl zum Motiv zahlloser Erzählungen, Romane, Comics, Serien. Der Reiz liegt in Momenten der Schönheit, Eleganz und Würde noch im Elend.

    "Die Zeit so still" - ein gutes Buch zur Stunde, in der Pandemie

    Die Novelle ist weder Kommentar noch Prognose, aber sehr wohl ein Trip in die dunkelsten Denkräume und auch die wärmsten Denkräume im Angesicht der Katastrophe. Hier wird eine Idee von Leben verhandelt, die über das Überleben hinausreicht – und trotzdem nicht den Virusleugnern das Wort redet oder Gefahren kleinschreibt. Im Gegenteil.

    "Die Zeit so still", mit Illustrationen" ist im Mirabilis Verlag erschienen und digital und im Buchhandel erhältlich.

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