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Neu-Ulm: Heiße Öfen statt Rentierschlitten

Neu-Ulm

Heiße Öfen statt Rentierschlitten

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    So ein Leben als Weihnachtsmann, das kann doch nur die reine Freude sein! Das ganze Jahr an irgendeinem Pol auf der faulen Haut liegen. Während der wenigen stressigen Tage komfortabel mit dem Rentierschlitten durch die Gegend reisen. Ein bisschen „Ho ho ho“ schreien und huldvoll Geschenke unters dankbare Volk streuen. „Ich weiß ja nicht, wie lange ich das noch machen kann“, stöhnt Charles Ctof (sprich „Sitof“) Heilman, als er sich am Samstagabend im Neu-Ulmer Café d’Art aus seinem roten Plüsch-Weihnachtsmannkostüm schält. Darunter trägt er Motorradkluft und darunter ein aufgeweichtes Hemd. Die ergraute Mähne und der Bart kleben dem 57-Jährigen am Kopf. Die blauen Augen blicken müde durch die Brillengläser: Santa Claus ist erschöpft. Darf er auch sein – Ctof Heilman und seine Motorradfreunde haben eben zum 25. Mal vielen Bewohnern des Wiblinger Tannenhofes die Weihnachtsfreude beschert, indem sie 124 der 222 Behinderten besucht und beschenkt haben.

    Armin und Carsten mussten am Samstag früh aufstehen. Gut 150 Kilometer auf den schweren Motorrädern lagen vor ihnen – einfach wohlbemerkt. Armin hat Ctof vor etlichen Jahren auf einem Bikertreffen kennengelernt. „Da hat er mir einen Flyer über den Toy Run in die Hand gedrückt“, erinnert sich Armin. Und am letzten Samstag vor Weihnachten schmetterte der Heilbronner auf seiner Harley Davidson nach Neu-Ulm, um seine Geschenke persönlich abzuliefern – wie seither viele, viele Male: bei Eiseskälte, im Schneegestöber oder, wie dieses Jahr, bei fast frühlingshaften Temperaturen.

    Mitunter scheint sich die Weihnachtsgeschichte in Ansätzen zu wiederholen: Im 25. Jahr musste der Toy Run selbst auf Herbergssuche gehen. 24-mal hatten der Neu-Ulmer „Pub 1900“ und alle seine Folgekneipen als Toy-Run-Zentrale gedient: Dort hingen die Listen aus, in denen die teils von den Mitarbeitern des Tannenhofes notierten Wünsche der geistig oder mehrfach behinderten Erwachsenen eingetragen waren. Bescheidene Wünsche: ein paar warme Socken, ein Kuschelkissen, Spielsachen, Malbücher, Parfüm, ein Kalender, eine CD oder eine warme Decke. Aus der Liste wählten die Biker „ihre“ Geschenke aus und begleiteten auf ihren Maschinen die Übergabe durch Weihnachtsmann Ctof Heilman.

    Ausgerechnet im Jubiläumsjahr sah es so aus, als gebe es keine Zentrale mehr. Schließlich erbarmte sich Veronika Gross, die seit Anfang des Jahres das Café d’Art in Neu-Ulm betreibt. Sie bot nicht nur eine neue Anlaufstelle, sondern organisierte auch 40 warme Decken für die Rollstuhlfahrer im Tannenhof. „Wenn’s nach mir geht, machen wir den Toy Run in Zukunft immer vom d’Art aus“, zeigt sie sich begeistert, als sie die Bescherung im Tannenhof erstmals erlebt.

    Nicht nur der Weihnachtsmann und seine Begleiter haben sich in den vergangenen 25 Jahren verändert, auch der Tannenhof hat sich gewandelt. Aus einem klassischen Behindertenheim wurde eine in kleine Einheiten untergliederte Wohnanlage, in der 170 behinderte Erwachsene so selbstständig wie möglich leben. Auch im angegliederten Wohnheim sind die 52 Senioren und mehrfach Schwerbehinderten nun in kleineren Gruppen mit Rückzugsbereichen untergebracht. Während zu Gründungszeiten des Tannenhofes vor 40 Jahren noch der Grundsatz „Hauptsache satt und sauber“ galt, sollen die Bewohner heute selbst mitentscheiden und -gestalten. „Wir beziehen die Menschen ein, auch wenn es darum geht, ihr Zimmer zu putzen oder die Wäsche zu waschen“, berichtet Seraph Einberger.

    Der Leiter Wohnen und Soziale Dienste, der seit 1977 im Tannenhof arbeitet, kennt den Toy Run seit der ersten Stunde. „Das ist für die Bewohner eines der wichtigsten Ereignisse im Jahr“, weiß er. „Die reden schon wochenlang vorher davon, und die Aufregung und Vorfreude nehmen jeden Tag zu.“

    Viele der 222 im Tannenhof stationär untergebrachten Menschen leben dort schon seit Jahrzehnten, weshalb der Altersdurchschnitt derzeit bei 55 Jahren liegt. Jüngere Behinderte sollen nun mit dem Angebot „Junges Wohnen“ angesprochen werden. In einer neuen Wohngemeinschaft versuchen gerade vier Behinderte zwischen 20 und 30 Jahren, sich von den Eltern, die sie bislang umsorgt haben, abzunabeln.

    Etliche der alteingesessenen Behinderten aber haben gar keine Angehörigen mehr oder den Kontakt zu ihnen verloren. Maximal 30 der Bewohner verbringen Weihnachten oder die Feiertage mit der Familie, schätzt Einberger.

    Umso willkommener ist da seit 25 Jahren der Besuch der Motorradfreunde. Hans-Jürgen zum Beispiel liegt schon seit Wochen auf der Lauer. Er wartet sehnsüchtig auf Gabi, die im Engelskostüm zusammen mit Ctof Heilman die Geschenke verteilt. Sie und der gebürtige Amerikaner machen den Toy Run seit Jahrzehnten so außergewöhnlich. „Was ich so bewegend finde, ist, dass Ctof und Gabi alle Geschenke persönlich übergeben und sich für jeden Zeit nehmen“, stellt Seraph Einberger fest. Und das berührt nach seiner Erfahrung alle Menschen gleichermaßen – vollkommen unabhängig vom Grad der Behinderung. Kein Wunder, dass der Weihnachtsmann anschließend erschöpft ist.

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