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Neu-Ulm: Ein bewegtes Leben zwischen Stasi-Knast und Straße

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Ein bewegtes Leben zwischen Stasi-Knast und Straße

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    Wolfgang, der seinen Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, im Café Naschkatze in Neu-Ulm. Dort ist der Obdachlose ein willkommener Gast.
    Wolfgang, der seinen Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, im Café Naschkatze in Neu-Ulm. Dort ist der Obdachlose ein willkommener Gast. Foto: Alexander Kaya

    Wer regelmäßig in der Neu-Ulmer Innenstadt unterwegs ist hat, der hat Wolfgang bestimmt schon einmal gesehen: Fast täglich sitzt der 66-Jährige mit der olivgrünen Jacke, dem auffälligen Hut und dem markanten Bart an der Bushaltestelle in der Augsburger Straße, neben sich einen kleinen Karton, in den der ein oder andere Passant etwas Geld wirft. Im August 2017 kam der Obdachlose, der derzeit im Nuißlheim wohnt, nach Neu-Ulm – und er hat eine bewegte Zeit hinter sich. „Ich habe schon viel erlebt – viel Schönes und Vieles, wo ich sage: Da hättest du drauf verzichten können.“

    Wolfgang wurde auf einmal politischer Gefangener

    Wolfgang, der seinen Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, wuchs in der DDR – genauer: in Chemnitz – auf, machte eine Ausbildung in einer Spinnerei. „Ich wollte von zu Hause ausziehen und sagte: ,Es kommt der Tag, da hau ich ab.‘ Das hat meine Familie leider in den falschen Hals bekommen.“ Denn seine Familie habe ihn angezeigt, weil sie gedacht habe, er wolle in den Westen flüchten – das war damals eigentlich gar nicht seine Absicht gewesen. „Es waren damals in meiner Familie alle in der Partei und haben versprochen bekommen, dass sie zum Beispiel eine Neubauwohnung bekommen, wenn sie Bericht über die Familie erstatten.“ Wolfgang wurde also auf einmal ein politischer Gefangener.

    Nach dem Gefängnisaufenthalt brach der Kontakt zur Familie ab

    Als er wieder aus dem Gefängnis kam, beantragte er mehrmals die Übersiedlung nach Westdeutschland. „Das wurde immer als unbegründet abgelehnt“, erzählt er. Schließlich versuchte er mehrmals, wirklich zu fliehen – doch geklappt hat es nie. „Es hat mich immer jemand verraten“, sagt Wolfgang. Kontakt zu seiner Familie hat er nach seinem ersten Gefängnisaufenthalt nie wieder. „Ich hätte gerne Kontakt gewollt, es gab ja einige Sachen zu klären“, sagt der 66-jährige und fügt hinzu: „Aber sie wollten nichts mehr mit mir zu tun haben.“ Nur Freunde hielten damals zu ihm.

    Im Gefängnis in der DDR wurde er manchmal in die Stehzelle gesteckt

    In der Zeit bis zur Wende war Wolfgang insgesamt elf Jahre in drei verschiedenen Gefängnissen, darunter auch die Haftanstalt im sächsischen Bautzen. Manchmal mussten er oder andere Gefangene in die sogenannte Stehzelle. „Die wurde dann mit Wasser geflutet, das stand einem bis zum Kinn“, erinnert sich Wolfgang. Mehrere Tage lang mussten die Inhaftierten so ausharren. „1989 wurde dann für politische Gefangene – die es ja offiziell gar nicht gab in der DDR – Amnestie erlasen. Mein erster Weg war nach Westberlin.“

    In Barcelona blieb Wolfgang nur eine Woche lang

    Doch die Wende und plötzliche Freiheit brachte nicht nur Gutes für Wolfgang mit sich: Die Spinnerei, bei der er gearbeitet hat, machte zu. Wolfgang verlor erst seinen Job, dann seine Wohnung. „Da bin ich erst einmal durch Deutschland gegurkt“, erzählt er. Dann kam ihm eine verrückte Idee: „Ich hatte vorher ein bisschen Geld zur Seite gelegt und dachte mir: ,Du könntest mal nach Spanien.‘“ So landete er in Barcelona – blieb aber nur eine Woche lang. Zwar seien auch in

    Am Starnberger See lernt er Heinz Rühmann kennen

    Zurück in Deutschland lebte der heute 66-Jährige ein paar Tage in Augsburg, danach am Starnberger See. Dort habe es ihm gut gefallen, erzählt Wolfgang. Fast einen Monat blieb er dort – und lernte durch Zufall den mittlerweile verstorbenen Schauspieler Heinz Rühmann kennen. Dieser sei ganz erstaunt gewesen, dass er ihn erkannte habe, so Wolfgang. „Er fragte ganz erstaunt: ,Woher kennen Sie mich?‘“, erzählt Wolfgang, lacht und fügt hinzu: „Dann hat er mich auf Kaffee und Kuchen eingeladen.“ Es sei ein wunderbares Gespräch gewesen.

    Im Zirkus ist er dem Sänger Freddy Quinn begegnet

    Auch im Fernsehen war Wolfgang schon einmal zu sehen: Mit 38 Jahren, 1991, arbeitete er beim Zirkus Holiday mit. „Ich kümmerte mich um die Tiere, aber habe auch in der Manege ausgeholfen.“ Eines Tages war ein prominenter Mann zu Gast: Schlagersänger und Schauspieler Freddy Quinn. „Er sagte, ihm habe gefallen, was wir machen und dann: ,Mit euch mache ich eine Serie.‘“ So kam es auch: Das ZDF drehte über das Leben der Zirkusleute die Show „Meine Freunde, die Artisten“. An die zwei Jahre arbeitet Wolfgang er beim Zirkus, danach stieg er aus.

    Seit etwas mehr als zwei Jahren ist Wolfgang in Neu-Ulm

    Im Sommer 2017 verschlug es Wolfgang nach Neu-Ulm – und mittlerweile sei er „bekannt wie ein bunter Hund“, und gut in die evangelisch-lutherische Petrusgemeinde integriert. Beim Café Naschkatze, dem Metzger-Hans und der Bäckerei Honold in der Augsburger Straße oder auch beim Eiscafé Da Venezia beim Petrusplatz gehöre er schon zum Inventar, dort bekomme er auch regelmäßig mal den einen anderen Kaffee oder etwas zu essen umsonst.

    Ein Kavalier der alten Schule

    Ab und zu bringt er dann auch Blumen vorbei. „Ich bin sozusagen ein Rosenkavalier“, sagt er und lacht. Wenn er Blumen mitbringt, bekomme er oft zu hören: „Du hast doch selber nichts“, so Wolfgang, betont jedoch: „Aber die Menschen sind so freundlich, da kann ich gar nicht anders.“

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