Ein Ball, ein kleiner blauer Ball: Nur dieses eine, armselige Spielzeug bleibt dem knapp drei Jahre alten Serkan. Gemeinsam mit seiner Mutter, der deutschen Übersetzerin und Journalistin Mesale Tolu, lebt der Junge seit Ende April im Frauengefängnis im Istanbuler Stadtteil Bakirköy. „Einzig den Ball lassen die türkischen Gefängniswärter als Spielzeug zu“, sagt Ali Riza Tolu, Serkans Großvater und Mesale Tolus Vater. Jeden Montag besucht er Enkelsohn und Tochter, würde dem Jungen gerne neues Spielzeug schenken: „Aber ich darf ihm nichts mitbringen.“ Zwar gibt es im Gefängnis einen Kindergarten. Doch der kleine Junge habe Angst, dorthin zu gehen, mit Gleichaltrigen zu spielen: „Er fürchtet, wieder von seiner Mutter getrennt zu werden“, berichtet der Großvater. In jener Aprilnacht, in der eine türkische Anti-Terror-Einheit Mesale Tolu in ihrer Wohnung verhaftete, hatten die Polizisten das Kind angebrüllt: „Wenn du nicht ruhig bist, kommst du in den Knast, genau wie deine Mutter!“ Danach hatten sie Serkan einfach bei den Nachbarn abgegeben und die Mutter mitgenommen. Am Tag darauf holte der Großvater den Buben ab, brachte ihn zwei Wochen später zu seiner Mutter: Seither leide Serkan unter Trennungsangst, sagt Ali Riza Tolu.
Zu seinem eigenen Vater konnte Serkan in jener Nacht nicht gebracht werden: Auch Suat Çorlu wurde festgenommen, einige Wochen vor seiner Frau. Çorlu hat sich für die prokurdische Partei HDP engagiert, der Prozess gegen ihn soll im November beginnen.
Mesale Tolu drohen 15 Jahre Haft - vielleicht auch 20
Über fünf Monate haben Serkan und Mesale Tolu schon in Haft verbracht, sie leben zusammen mit 17 Frauen in einer Zelle: „Jeweils zwei Frauen teilen sich darin eine kleine Koje“, beschreibt der Vater. Am Mittwoch soll der Prozess gegen die 33-Jährige und 17 Mitangeklagte beginnen. Wegen Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer Terrororganisation drohen ihr bis zu 15, vielleicht auch 20 Jahre Haft. Als Beweis führen die türkischen Behörden unter anderem an, dass Tolu an der Beerdigung von zwei bei einem Polizeieinsatz getöteten Mitgliedern der „Marxistischen Kommunistischen Partei“ teilgenommen und einen Artikel darüber geschrieben habe. Rund 150 Reporter und Redakteure sitzen derzeit in türkischer Haft.
Der Prozess im Silivri-Gefängnis ist auf zwei Tage terminiert. In diesem Hochsicherheits-Strafanstalt, 70 Kilometer von Istanbul entfernt und schlecht zu erreichen, sitzen der Vater, Suat Çorlu, und auch der deutsch-türkische Journalist Denis Yücel. Nach Einschätzung von Solidaritätskreis-Sprecher Baki Selcuk hat das Istanbuler Gericht den Prozess dorthin verlegt, um so weniger öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Zudem habe die türkische Justiz verfügt, dass nur fünf Journalisten aus dem Ausland in den Gerichtssaal dürften.
Vor Gericht wird die türkische Rechtsanwältin Kader Tonç Mesale Tolu vertreten. Deutsche Beobachter rechnen mit einer Verurteilung, es gehe ausschließlich um das Strafmaß. „Wir werden auf Freispruch plädieren“, sagt Tonç, „die Staatsanwaltschaft hat auf drei Seiten in der Anklageschrift keine Beweise für ihre Vorwürfe vorgelegt!“ Die Suche nach Waffen in der Wohnung Tolus sei ergebnislos geblieben: „Und die Teilnahme an Veranstaltungen rechtfertigt kein Urteil!“ Es gebe nur einen Hinweis – den eines angeblichen, aber anonym bleibenden „geheimen“ Zeugen. Tonç rechnet nicht mit einem schnellen Urteilsspruch. Wann? Das sei ungewiss. Eventuell könne Tolu bis zur Urteilsverkündung auf freien Fuß gesetzt werden. Doch auch das sei unsicher: „Mesale Tolu ist Erdogans Geisel“, sagt Tonç immer wieder.
Beobachter: Inhaftierte als Druckmittel gegenüber der deutschen Regierung
Tolu sei, wie 61 weitere deutsche Staatsbürger in türkischer Haft, eine „Geisel des türkischen Staatschefs Erdogan“, argumentieren viele Beobachter schon seit Monaten. Erdogan brauche Druckmittel gegenüber der deutschen Regierung, damit diese angebliche Unterstützer des Putsches im vergangenen Jahr, die sich in Deutschland aufhalten, ausliefere. Bisher verweigert sich aber die deutsche Regierung dem Ansinnen.
Da hilft bislang auch nicht, dass Mesale Tolu keine türkische, sondern allein deutsche Staatsbürgerin ist. Tolu wurde 1984 Ulm geboren. „Wir sind eine sozialistisch denkende Familie“, beschreibt ihr Vater seine politische Einstellung. Als 15-Jähriger kommt er 1974 nach Deutschland, wie auch seine vier Geschwister findet er hier schnell Arbeit. Der kräftige Mann mit dem dichten grauen Bart gründet schnell eine Familie, 1980, 1981 und 1984 kommen seine Kinder, zwei Töchter und ein Sohn, zur Welt. 1991 stirbt die Mutter bei einem Autounfall, Ali Riza Tolu heiratet nicht wieder. Alleine zieht er die Kinder groß. „Mesale, die jüngere Tochter, war immer sehr klug“, erinnert sich ihr Vater, „und sie wusste immer, was richtig und falsch ist.“
Nach dem Abitur geht Mesale Tolu nach Frankfurt am Main, studiert Spanisch und Ethik, will Lehrerin werden. Sie hat die politische Einstellung des Vaters übernommen. Wie zuvor in Ulm engagiert sie sich in Frankfurt in verschiedenen Migrantenorganisationen, tritt gegen Rassismus und Sexismus ein. 2007 gibt sie ihren türkischen Pass ab.
2014 kommt Sohn Serkan zur Welt. Im gleichen Jahr zieht Mesale Tolu nach Istanbul, um für den Radiosender Özgür Radyo zu arbeiten. Der Sender wird, wie viele andere Medien auch nach dem Putschversuch von Juli 2016, per Dekret geschlossen. Danach arbeitet Tolu in der Auslandsredaktion für die regierungskritische Nachrichtenagentur Etha.
Eine ganze Familie im Kampf um Freiheit, Gerechtigkeit und Aufmerksamkeit
Doch am 30. April endet dieses Leben zwischen Familie und Beruf abrupt – für Mesale Tolu und ihre ganze Familie. Ihr Vater, Ali Riza Tolu, der nach verschiedenen beruflichen Stationen seit zehn Jahren im Ruhestand („Mal hier in Neu-Ulm, mal in der Türkei“) lebt, wird zur wichtigsten Bezugsperson. Er bezieht Mesale Tolus Wohnung am Stadtrand von Istanbul. Auch für ihn ist nichts mehr so wie vorher: „Jetzt sind Montag und Donnerstag die wichtigen Tage in meinem Leben.“
Montags besucht Ali Riza Tolu seine Tochter, donnerstags fährt er ins Silivri-Gefängnis und besucht seinen Schwiegersohn Suat Çorlu. „Manchmal nehme ich meinen Enkel, Serkan, von einem Gefängnis ins andere mit“, seufzt der 58-Jährige.
Die ganze Familie ist in diesen Kampf um Freiheit, Gerechtigkeit und auch um Aufmerksamkeit eingebunden: Während der Vater sich in Istanbul um Tochter, Enkel und Schwiegersohn kümmert, ist das Mehrfamilienhaus in Neu-Ulm, in dem die 81-jährige Großmutter und Mesales Bruder, Hüseyin Tolu, mit seiner Familie leben, in diesen Tagen vor dem Prozess zu einer Art Hauptquartier geworden. Dort werden Solidaritätskonzerte, Fernsehauftritte und Interviews geplant.
Hüseyin Tolu, Familienvater und Leiter der Baustoff-Abteilung in der Ulmer Filiale der Baumarkt-Kette Hornbach, hat mittlerweile reichlich Medien-Erfahrung gesammelt. Bis zu 30 Anrufe von Zeitungen, Fernseh-Sendern, Radiostationen und Internet-Journalisten bekommt er - pro Tag: „Besonders vor Terminen wie der Haftprüfung oder jetzt vor Prozessbeginn melden sich viele Medien“, sagt er, „aber ich kann nicht immer sofort antworten: Ich muss schließlich mein Geld verdienen!“
Politische Unterstützung wird vermisst
Im Gegensatz zu den Medien vermisst Hüseyin Tolu die politische Unterstützung für seine Schwester, wie sie beispielsweise dem deutsch-türkischen „Welt“-Korrespondenten Denis Yücel zuteilwerde. Zwar gebe es konsularische Betreuung durch Besuche, auf der Regierungsebene aber sei es ihm zu ruhig: „Wir haben mit Vertretern vieler Parteien gesprochen. Ich hätte mir mehr erwartet.“ Am Freitag kam ein Signal aus dem Auswärtigen Amt in Berlin: „Selbstverständlich sind wir jederzeit gesprächsbereit, bereit, mit Angehörigen zu sprechen und auch zu erläutern, was wir alles tun und wie wir uns darum bemühen, dass diese Kriterien auch von türkischer Seite erfüllt werden.“ Das Verfahren gegen Mesale Tolu folge keinen rechtsstaatlichen Kriterien.
In allen Gesprächen schwingt die Hoffnung mit, dass Mesale Tolu bald frei sein wird. Und immer wieder zitieren die Angehörigen aus einer Botschaft der Inhaftierten aus dem Gefängnis: „Euer Wille und eure Kraft geben mir Kraft und Hoffnung. (...) Ich glaube daran, dass es bald sonnige Tage für uns geben wird.“ Gestern, am Sonntag, sind Vater Ali Riza Tolu und seine älteste Tochter nach Istanbul geflogen: Montag ist Besuchstag, 30 Minuten Zeit stehen für das Gespräch zur Verfügung. Mittwoch folgt der Prozessauftakt. Mit der Hoffnung auf Freiheit für Mesale Tolu - und das Enkelkind. Ali Riza Tolu „Ich will nicht, dass Serkan im Gefängnis aufwächst!“ Seinen dritten Geburtstag, am 6. Dezember, soll er in Freiheit erleben.
Ulm steht an der Seite von Mesale Tolu
Ulmer Journalistin Mesale Tolu ist seit 100 Tagen in Haft