Teile werden verschraubt, Gewinde zusammengedreht, Plastiktüten befüllt und abgewogen. Die Beschäftigten in den Donau-Iller-Werkstätten in Senden übernehmen unter anderem Aufträge für den Neu-Ulmer Autozulieferer und Dichtungsspezialisten Reinz. 220 Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen arbeiten hier, fünf Tage die Woche zwischen 8 Uhr und 15.45 Uhr. Es gibt auch ein umfangreiches Freizeitprogramm: Musik, Sport, Lesen, Malen und mehr. In normalen Jahren zumindest. Jetzt ist vieles nicht möglich, unter anderem, weil die großen Räume wegen der Corona-Abstandsregeln anderweitig genutzt werden. Aber was ist schon normal?
Seit sechs Jahrzehnten arbeitet die Lebenshilfe Donau-Iller an einer Antwort. Am 7. Oktober 1960 haben engagierte Menschen den Ortsverein Ulm der Lebenshilfe gegründet. Wenige Jahre zuvor, in der Nazi-Zeit, waren Menschen mit Behinderung weggesperrt, zwangssterilisiert, ermordet worden. Und davor waren sie in Kellern versteckt worden. „Es war Verzweiflung“, sagt Jürgen Heinz über die Motivation der Ulmer Lebenshilfe-Initiatoren, zu denen auch Inge Aicher-Scholl und Otl Aicher zählten. Verzweiflung darüber, dass es keinen Ort gab, an dem behinderte Menschen gut aufgehoben und betreut waren.
Vom Elternverein zu einem der größten Arbeitgeber der Region
Jürgen Heinz, promovierter Gesundheitsökonom, ist seit knapp sieben Jahren Vorstandsvorsitzender der Lebenshilfe Donau-Iller. Aus dem einstigen Elternverein ist einer der größten Arbeitgeber in der Region geworden: mit 1100 Mitarbeitern und ebenso vielen Beschäftigten. Beschäftigte werden bei der Lebenshilfe all jene genannt, die eine Behinderung haben. Sie arbeiten in den Werkstätten wie in Senden oder im Neu-Ulmer Inklusionsbetrieb Adis, wo Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam tätig sind.
Die großen Firmen aus der Region vergeben nicht nur Aufträge an die Werkstätten, sie schicken auch ihre Mitarbeiter vorbei. Zum Beispiel Trainees, die auf spätere Führungsaufgaben vorbereitet werden sollen. Jürgen Heinz erklärt: „Es gibt viele Fachkompetenzen. Aber es kommt auch auf Sozialkompetenzen an: Ehrlichkeit, Feedback geben, Wertschätzung.“ All das, glaubt Heinz, könne man im Umgang mit Menschen mit Behinderung vielleicht besser lernen als irgendwo sonst.
Christine Liewald arbeitet im Bereich Verpackungen in der Sendener Werkstätte. Dort übernimmt sie auch Zusatzaufgaben: Die 48-Jährige ist als Werkstatträtin Ansprechpartnerin für alle Beschäftigten, die Sorgen, Kritik und Anregungen haben. Darüber hinaus kümmert sie sich um Fotos der Neuankömmlinge. Die Werkstätte sei aber mehr als ein Arbeitsplatz, sagt sie: „Ich habe viele Freunde hier.“
Vor zwölf Jahren ist Liewald aus ihrem Doppelzimmer in einem Lebenshilfe-Wohnheim ausgezogen, heute lebt sie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in einem Sendener Mehrfamilienhaus. „Es war eine ganz schöne Umstellung damals“, erinnert sich die 48-Jährige an den Umzug. Ambulant unterstütztes Wohnen heißt das Konzept bei der Lebenshilfe: Menschen mit Behinderung leben alleine und bekommen regelmäßig Besuch von einem Betreuer. Christine Liewald erhält alle zwei Tage Unterstützung. „Kleinigkeiten mache ich selber, für große Sachen brauche ich Hilfe und die bekomme ich auch“, schildert sie.
Heinz: Hilfe braucht jeder Mensch einmal
Liewald kocht, in ihrer Freizeit strickt sie oder sieht fern. Abends trifft sie sich mit Freunden, an Wochenenden unternimmt sie Ausflüge mit der Lebenshilfe. Mit ihren Nachbarn verabredet sich die 48-Jährige zu Weißwurstfrühstücken. Christine Liewald ist die einzige Mieterin in dem mehrstöckigen Haus, die ambulant unterstützt wohnt.
Ist behindert, wer Hilfe braucht? Lebenshilfe-Chef Jürgen Heinz hält eine Brille in die Luft. Seine Augen seien schon mal besser gewesen, sagt er. Hilfe brauche jeder Mensch am Anfang und am Ende seines Lebens. Nur die Zeit dazwischen sei eben bei jedem einzelnen unterschiedlich lang. Und der Bedarf sei unterschiedlich groß. Die Lebenshilfe Donau-Iller betreut und begleitet 2800 Klienten. Die jüngsten sind drei Monate alte Kinder, die Förderbedarf haben. „Wir können in vielen Fällen eine spätere Behinderung verhindern“, sagt Heinz. Die Lebenshilfe begleitet aber auch Menschen palliativ.
Jeder soll ein ganz normales Leben führen und sich frei entfalten können, das will die Lebenshilfe Donau-Iller ermöglichen. Vorstandsvorsitzender Jürgen Heinz sieht im gewandelten Bild der Gesellschaft eine entscheidende Entwicklung: „Dass die Gesellschaft nicht mehr nur ein Recht auf Leben, sondern ein Recht auf Teilhabe anerkennt“, sagt er. „Es normal ist, dass ich Mitmenschen habe, die anders sind als ich.“ Auch die Lebenshilfe hat ihren Fokus verschoben: ein Stück weg von der Perspektive der Eltern, die die Institution gegründet und geprägt haben. Hin zu den Menschen mit Behinderung selbst. „Die haben ihren eigenen Kopf“, sagt Jürgen Heinz.
Inklusion in der Lebenshilfe - oder: Jeder Mensch gehört dazu
Inklusion ist die Vision der Lebenshilfe: dass jeder Mensch ganz natürlich zur Gesellschaft gehört. Er werde es wohl nicht mehr erleben, dass dieses Ziel Wirklichkeit wird, sagt Jürgen Heinz. Doch die Lebenshilfe könne dazu beitragen, dass sich die Gesellschaft in diese Richtung bewegt. Manchmal sind es kleine Dinge, die dabei helfen. Eine Ampelwaage zum Beispiel. Wer keine Zahlen lesen kann, kann keine Tüten zur Kontrolle abwiegen. Außer, es gibt die richtigen Hilfsmittel. Das grüne Licht einer Ampelwaage leuchtet, wenn das Gewicht stimmt. Das linke rote Licht leuchtet, wenn die Tüte zu leicht ist. Das rechte rote Licht leuchtet, wenn die Tüte zu schwer ist.
Arbeit ist Teil des Lebens, die Lebenshilfe Donau-Iller ermöglicht Menschen Arbeitsplätze, die sie anderswo nicht finden. In Neu-Ulm, Senden, Illertissen, Jungingen und Böfingen. Das erklärte Ziel aber ist: so viele Leute wie möglich im sogenannten ersten Arbeitsmarkt unterzubringen. Zum Beispiel im Inklusionsbetrieb Adis. Ob Teile für Reinz-Dichtungen oder die Windeltorte der Drogeriekette Müller: Das Geld aus den Betrieben ist ein wichtiges Standbein für die Lebenshilfe Donau-Iller, es macht etwa ein Drittel der Einnahmen aus. Der Rest stammt von Kostenträgern. Doch die Einnahmen sind im Jubiläumsjahr um rund 20 Prozent eingebrochen: Die Krise, die etwa die Autobranche getroffen hat, spüren auch die Donau-Iller-Werkstätten. Corona hat nicht nur die Finanzen schmelzen lassen, auch die Feier zum 60. Gründungstag der Lebenshilfe ist abgesagt. Im Frühsommer soll sie nachgeholt werden.
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