Geschichte wiederholt sich - sagen die einen. Die Opposition stellt diese Behauptung in Abrede. Mit der Kunstgeschichte verhält es sich auf den ersten Blick ähnlich: Was wir an der Schwelle zum 19. Jahrhundert an neuen Bauwerken, Bildern und Plastiken erblickten, glaubte man, schon einmal gesehen zu haben. Willkommen inmitten des Klassizismus, dem sechsten Teil unserer Kunstzeitreise.
Der Klassizismus sucht nach dem Ideal des Altertums
Gibt es eine ideale Kunst? Frei vom Überflüssigen und von Schnörkeln, nur das Reine allein und ungestört darstellend? Allerdings bestünde dann die Gefahr, dass eben das Persönliche, die Intention des Erschaffenden, vielleicht sogar sein Herzblut, nur beschränkt in dessen Werk eingehen kann. Bereits in der Renaissance, die wir in einer der vorangegangenen Folgen behandelt haben, beriefen sich die Zeitgenossen auf die Antike als Maßstab für das Anzustrebende: Klare Linien, runde Bögen im Sinne der römischen Architektur, und schlanke Säulen, wie sie die Tempel der Griechen aufwiesen. Nicht von ungefähr lehnt sich schon der Name der Epoche an das klassische Altertum an.
Dabei war der neue, alte Stil vielmehr als nur die Ablösung des als zunehmend schwülstig und gar kitschig empfundenen Barock und Rokoko. Der Klassizismus war die künstlerische Manifestation eines politischen und gesellschaftlichen Erdbebens. In Frankreich begehrten die Massen gegen die unterdrückende und nicht mehr als zeitgemäß empfundene absolute Königsherrschaft auf. Die Revolution endete mit unzähligen rollenden Köpfen; der Sieger hieß Napoleon. Doch schon Jahrzehnte zuvor drangen ausgehend von philosophischen und staatsrechtlichen Überlegungen Ideen der Aufklärung auch über den Rhein. Die Autoritäten der Kirche und des Adels wurden angezweifelt. Die Vernunft sollte blinden Glauben und Gehorsam ablösen. Die Heiligenwelten des Barock wurden von den Aufklärern als ein Zeichen von Rückständigkeit und Aberglauben gebrandmarkt. Zwar wurde die Existenz Gottes (zumindest in den meisten Fällen) nicht geleugnet, aber der Weg in diese Richtung gestaltete sich nur direkter, unmittelbarer. Fast schon reformatorisch, so könnte man es nennen.
Spuren des Klassizismus - von Buch bis Ingstetten
Blicken wir in den Himmel. Nein, nicht in die Atmosphäre über uns; den Kirchenhimmel im Klassizismus. Wir erinnern uns noch an das Gewimmel von Dreifaltig- und Heiligkeit der Maler im Barock und Rokoko: Auf den Gemälden von Wannenmacher, Kuen, Enderle tummelten sich die Gestalten in einem himmlischen "theatrum sacrum". Nicht so schon wenige Jahre später: Konrad Huber malt in der Pfarrkirche Buch die Enthauptung des Valentin. Vor einer Jupiterstatue kniet der Heilige, der Schächer hinter ihm bereit zum Hieb.
Doch was erwartet den Patron der Liebenden im Himmel? Keine Heerscharen von Heiligen, Ansammlungen von Märtyrern, Maria und die Dreifaltigkeit - nein - die Ewigkeit erscheint leer, bis auf einen einzigen Engel, welcher dem todgeweihten Valentin den Weg zu weisen scheint. Mehr benötigt der Mensch nach aufklärerischer Auffassung nicht zum Seelenheil. Auch die Kirchen im benachbarten Obenhausen sowie in Ingstetten glänzen in klarer klassizistischer Raumwirkung. Hierzu eine dezente Farbgebung in Pastellgrün mit nur wenigen Ornamenten, zumeist in der Form von Girlanden und Zöpfen.
Bauwerke des Klassizismus in Neu-Ulm und Weißenhorn
In der Kreisstadt Neu-Ulm selbst finden sich allenthalben, wenn auch oft verändert oder später vereinfacht wieder aufgebaut, Zeugen dieser Kunstepoche. Gerade Schützenstraße und Hermann-Köhl-Straße weisen neben Beispielen des Historismus, den wir in der kommenden Folge behandeln werden, auch Bauwerke des Klassizismus auf. Auch hier geben sich die klaren horizontalen Linien und die nahezu schmucklosen Fassaden charakteristisch. Herausragende Bauten präsentieren sich auch in Weißenhorn dem Betrachter: In der Hauptstraße der ehemalige Gasthof zum Engel, wenige Häuser weiter jener zum Hasen mit flachem Mittelrisalit, einem Vorbau mit Dreieckgiebel. In bester klassizistischer Manier die Fassadenpilaster, Pfeiler mit korinthischem Abschluss. Auch die alte Schule mit ihrem niedrigen Walmdach stammt noch aus dieser Epoche.
Höfisches und Klerikales wird im Klassizismus vermieden
Mit dem Krankenhaus an der Günzburger Straße stoßen wir hier noch auf einen weiteren Vertreter dieser Stilrichtung. Nur der kleine Zwerchgiebel an der Ostseite sowie ein Dachreiter unterbrechen die horizontalen Linien der Fenster-Achsen. Die Rustika im Sockelgeschoß, diese Säulenkonstruktion, ist dann auch der einzige Zierrat an der ansonst nüchternen Fassade. Die Fenster werden durch keine Dreiecks- oder Segmentgiebel bekrönt, alles einst Höfische und Klerikale wird im Klassizismus bewusst vermieden: Eine neue Zeit scheint anzubrechen.
Allerdings sollte sich schon sehr bald herausstellen, dass die Bevölkerung für solch radikale Veränderung noch nicht bereit war. Zu sehr hing man noch an dem Gewohnten, am Liebgewonnenen. Auch dies wird sich wieder in der Kunst manifestieren. Davon mehr in der nächsten Folge.
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