Schön, dass Sie uns bei unserer kunstgeschichtlichen Reise weiter begleiten möchten. Wir möchten Ihnen als Leser in dieser Serie markante Beispiele der Architektur, Plastik oder Malerei im heutigen Landkreis Neu-Ulm vorstellen. Nachdem wir im ersten Teil die Romanik in ihrer Erhabenheit und Archaik kennengelernt haben, wandern wir auf dem Zeitstrahl weiter. Hoch, höher, am höchsten ist nun die Devise: Die Gotik lässt grüßen!
Gotik im Kreis Neu-Ulm - das ist mehr als der Blick aufs Ulmer Münster
Wer verharrt nicht in Ehrfurcht vor den mächtigen Türmen der Münster und Dome? In unserer Heimat natürlich der Ulmer Turm, mit seinen 161,58 Metern der höchste der Christenheit, der erst Ende des 19. Jahrhunderts vollendet wurde. Mit Straßburg und Freiburg ließen sich aber auch ohne Weiteres erstklassige Beispiele für die filigrane Himmelsarchitektur finden. Wir wollen jedoch in der Region bleiben: Auch hier, in unserem Wohlfühlbereich, treffen wir Meisterwerke der Gotik an. Vielleicht nichts Bombastisch-großes, eher Kleinode, deren nähere Betrachtung sich aber sicher lohnen wird. Zunächst – welchen Zeitrahmen dürfen wir ansetzen?
Da wir die Romanik gegen 1250 n. Chr. enden ließen, können wir die Mitte jenes Jahrhunderts als Übergang zur gotischen Kunst betrachten. Natürlich geschah der Wechsel nicht abrupt; Stilelemente der vorhergehenden Epoche wurden weiterverwendet, so wie scheinbar in der Gotik entwickelte Merkmale bereits in der Romanik ausprobiert wurden. Die Bezeichnung der Epoche war im Übrigen zuerst alles andere als schmeichelhaft: Zugeschrieben wird der Begriff „Gotik“ dem toskanischen Architekten Giorgio Vasari, der damit den Baustil der Barbaren, eben der Goten, der Welt der edlen italienischen Renaissance gegenüberstellte. Ob ihm bewusst war, dass die Gotik im Herzen Frankreichs ihren Ursprung hatte? Genauer in der Abteikirche von Saint Denis, der Grablege der französischen Könige. Die waren jedenfalls keine Goten.
Die Spuren der Gotik zwischen Donau, Iller, Roth und Biber
Fährt man übers Land, die Täler von Donau, Iller, Roth oder Biber entlang, fallen prinzipiell zwei unterschiedliche Dachformen von Kirchtürmen auf: die gerundete Zwiebel - und die steilen Satteldächer. Letztere stammen, bis auf vereinzelte Neubauten, aus dem ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Neuzeit. Diese künstlerisch fruchtbaren Jahre gehen einher mit der Epoche der Spätgotik. Bedingt durch die Nähe der Reichsstadt Ulm und dem Münsterbau strahlten die dortigen Kunstwerkstätten ins Umland hinaus. Wunderschöne gotische Türme der Dorfkirchen finden sich in Biberberg, Oberfahlheim aber auch in Aufheim, Vöhringen, Ober- und Unterroth. Die Aufzählung ist nicht vollständig. Jeder mag hier auf eigene Entdeckungsreise gehen. Ein Paradebeispiel einer spätmittelalterlichen Stadtbefestigung ist der Mauerring mitsamt den Toren von Weißenhorn. Auch das dortige Alte Schloss fällt in diesen Zeitrahmen
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Wenden wir uns nun ins Innere mancher Gotteshäuser, so verwundert die Vielzahl an Skulpturen jener Epoche. Auch hier ist die Wurzel verstärkt in der Nähe zu Ulm zu suchen. Ausschlaggebend für die Häufung erstklassiger Schnitzwerke in kleinen Dorfkirchen, wie Attenhofen oder Holzheim, war jedoch oftmals eine „Bildersturm“ genannte Demontage als Reformationsfolge. Über 70 Altäre, die noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts das Münster zierten, wurden entfernt, zum Teil leider auch zerstört. Nicht wenige der unzähligen Figuren und Reliefs fanden ihren neuen Platz in den katholisch gebliebenen Gemeinden und Klöstern der Umgebung. Charakteristisch für diese Skulpturen waren eine zuvor nicht gekannte Lebendigkeit, eine Ausdrucksstärke, wie sie erst wieder im Barock erreicht werden sollte. Der Heilige wirkt nicht mehr statisch, sondern als ob er inmitten einer Bewegung abgebildet wird. Gebeugte, geneigte Körper vermitteln den Schein, als bestehe ein Dialog zwischen Kunstwerk und Betrachter. Der Faltenwurf des Gewandes verstärkt den Eindruck dieser Dynamik.
Gotische Schnitzkunst in der Pfarrkirche von Reutti
Den Höhepunkt spätgotischer Schnitzkunst im Landkreis stellt ohne Zweifel der Innenraum der kleinen Pfarrkirche von Reutti dar. Die Patrizierfamilie Roth, welche auch die Ortsherrschaft besaß, stiftete um 1519 dieses Retabel aus der Werkstatt des Ulmer Künstlers Niklaus Weckmann. Theatralisch staffeln sich die Apostel um die Liegefigur der soeben gestorbenen Muttergottes. Mariens Tod erscheint in Reutti als eine geballte Physiognomie der Trauer. Auch andere Ausstattungsstücke im Kirchenschiff, das in dieser Form nördlich der Alpen äußerst seltene Sakramentshaus sowie der Taufstein, erinnern mit ihren spitzbögigen Verzierungen an die große Zeit der Ulmer Kunst.
Bilder der Gotik tauchten im späten 14. Jahrhundert im Kreis Neu-Ulm auf
Erstmals tauchen im späten 14. Jahrhundert Bilder im Landkreis auf. Noch ist der Künstler nicht benannt, die Themen sind ausnahmslos christlich. Wandmalereien in der Pfuhler Ulrichskirche zählen zu den frühesten in unserer Region. Farbenprächtig die Passionsszenen in der kleinen heimeligen Kirche von Hausen. Der Spruch, wonach Bilder die Bibel des einfachen Volkes seien – man könnte meinen, er wäre hier entstanden.
Zwischenzeitlich hat sich jedoch viel verändert: Reformation und Bauernkrieg läuteten das beginnende konfessionelle Zeitalter ein. Hinzu kam eine Geisteshaltung über die Alpen, die vermehrt den Menschen als Individuum in den Mittelpunkt stellte. Spätestens ab 1550 gehörte die gotische Kunst der Vergangenheit an, dem „dunklen, abergläubischen Mittelalter“, galt es nun, zu entfliehen.
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