"Lasst uns Muscheln suchen!" Der Wunsch der Kinder beim Strandurlaub lässt sich ohne Weiteres auf die Kunst und Architektur des 18. Jahrhunderts anwenden. Muschelwerk, französisch "rocaille", ist dabei nur ein kleines Formdetail der Ornamentik. Dennoch wurde dieses stets wiederkehrende Motiv zum Namensgeber einer ganzen Epoche: willkommen im Rokoko, dem fünften Teil unserer Kunstzeitreise.
Spuren des Rokoko sind im Landkreis Neu-Ulm weit verbreitet
Barock und Rokoko werden oft in einem Atemzug genannt. Zugegeben, für den Laien erschließt sich der Unterschied oft nicht auf den ersten Blick. Helle Räume mit vielerlei Stuckdekoration, theatralisch anmutender Figurenschmuck und Himmelsszenarien wie in einem Wimmelbuch. Die politische Situation seit dem Dreißigjährigen Krieg hatte sich nicht wesentlich geändert. Noch immer gab es die Ständegesellschaft, noch immer hatten der Bauer, der Knecht, der kleine Handwerker seine Abgaben an die Grundherren zu leisten. Noch immer führten die Fürsten und Äbte ein vergleichbar luxuriöses Leben im zeitgenössischen Geist des Absolutismus. Dennoch löste sich gerade in der Architektur allmählich die Strenge und Monumentalität auf, die noch die Bauwerke des Barocks ausgezeichnet hatten. Spielerei und Eleganz zogen ein in die Kirchen und Schlösser, verbunden mit einer Leichtigkeit und Intimität, einer Experimentierfreude in der Ornamentik als auch in der Raumgestaltung.
Es lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass es in unserer Region kaum ein Gotteshaus gibt, das nicht zumindest ein Figurenwerk oder Schmuckdetail dieser Epoche vorweisen kann. Wir möchten uns daher repräsentativ für die vielen ungenannten Kirchen und Kapellen einigen epochetypischen Bauwerken im Kreisgebiet zuwenden. Gerade der Vergleich mit dem im vorherigen Teil dieser Serie geschilderten Barock mag nun so manchem Leser die Unterscheidung erleichtern.
Eine Zeitreise in das Rokoko, von Oberelchingen bis Roggenburg
Die ehemalige Klosterkirche in Oberelchingen, um im Norden zu beginnen, weist trotz ihrer Rokoko-Ausstattung schon in den Klassizismus und soll daher im nächsten Kapitel behandelt werden. Hingegen empfängt der Innenraum der Strasser Pfarrkirche St. Johann Baptist den Eintretenden mit einem ungebrochen heiteren Reichtum an Formen und Linien. Hier wurde die barocke Ordnung aufgelöst, um Platz zu schaffen für Ranken- und Blattwerk, für Arabesken und Feder. Der Abt des Klosters Elchingen, Amandus Schindele, beauftragte den Neubau Mitte des 18. Jahrhunderts. Verantwortlich zeichnete sich hier mit Johann Wiedemann ein Vertreter der bekannten Unterelchinger Baumeisterfamilie. Auch der Schöpfer der Deckengemälde ist kein Unbekannter in der Region: Joseph Wannenmacher schmückte unter anderem auch die Kirche zu Thalfingen mit seiner charakteristischen Farbkomposition.
Wie einen wertvollen Schatz scheinen die Mauern den Innenraum der Wallfahrtskirche Witzighausen zu behüten. Die durch und durch heimelige Atmosphäre, die den Besucher umgibt, wird verstärkt durch die abgerundeten Ecken des Langhauses. Hier wirkte mit Christian Wiedemann der berühmtere Verwandte des Strasser Architekten. Der Stuck der Gebrüder Finsterwalder nimmt hingegen noch symmetrische Formen des späten Barock auf, wobei aber Muschelwerk und sich freudig bewegende Putten ihren Anspruch auf Darstellung bereits deutlich machen.
Das Rokoko blüht auch in der Schlosskapelle Illertissen auf
Setzten wir unsere Reise nach Osten fort, erreichen wir die Kirche des ehemaligen Prämonstratenserklosters Roggenburg. Natürlich ein Gesamtkunstwerk des Rokoko, unter so berühmten Baumeistern wie dem Krumbacher Simpert Kraemer. Dennoch schauen wir mit einem lachenden und weinenden Auge auf das Deckengewölbe im Langhaus. Franz Martin Kuens sicherlich wunderbare Fresken im Kirchenschiff sind verschwunden, fielen einer kunstignoranten Stimmung zum Opfer, wie sie zu Beginn des letzten Jahrhunderts nicht selten anzutreffen war. Unter der Orgelempore finden wir dann doch noch einen Teil der Ausmalung Kuens. Was nicht heißen soll, dass vom großen Weißenhorner Maler des Rokoko in Roggenburg nichts mehr erhalten ist. Das Gegenteil ist der Fall: In den Klostergebäuden vom Refektorium bis hin zur Sakristei können die lebendigen Bilderlandschaften Kuens in vollen Zügen genossen werden. Allerdings nur nach vorheriger Absprache.
Kuen treffen wir außerdem wieder in der Schlosskapelle Illertissen, mit ihrem verspielten Altärchen. Sie ist, wie Witzighausen und Roggenburg, seit Kurzem ein Etappenziel der Oberschwäbischen - jawohl! - Barockstraße. Lassen Sie uns die Reise in Dietershofen beenden. Die Anordnung der Fenster der dortigen Dreifaltigkeitskapelle dokumentiert nochmals die ganze Spielfreudigkeit der Epoche. Nach der glücklichen Renovierung vor einigen Jahren glänzt das kleine Gotteshaus sowohl von außen als von innen als formvollendetes Ideal des Rokoko.
Ausblick auf die nächste Kunstzeitreise durch die Region Neu-Ulm
Das 18. Jahrhundert neigt sich allmählich seinem Ende zu. Politisch und gesellschaftlich setzen sich, aus Frankreich kommend, neue Gedanken durch. Die nächste Zeit wird zudem Krieg und Verwüstung bringen. All das wird auch Einfluss auf die Kunst gewinnen. Warten wir ab.
Lesen Sie auch die ersten vier Teile unserer Kunstzeitreise:
Kunstzeitreise: Himmlisches Theater gegen irdisches Elend
Kunstzeitreise: So ließ die Renaissance im Kreis Neu-Ulm die Antike aufleben
Kunstzeitreise: Meisterwerke der Gotik im Landkreis Neu-Ulm
Kunstzeitreise durch den Kreis Neu-Ulm: Die Steine der Romanik (Teil 1)
- Kunstzeitreise: Himmlisches Theater gegen irdisches Elend
- Kunstzeitreise: So ließ die Renaissance im Kreis Neu-Ulm die Antike aufleben
- Kunstzeitreise: Meisterwerke der Gotik im Landkreis Neu-Ulm
- Kunstzeitreise durch den Kreis Neu-Ulm: Die Steine der Romanik (Teil 1)