Plötzlich ist alles anders. Neu, befremdlich und beklemmend. Mit dem Coronavirus hat sich über allem ein Gefühl der Hilf- und Ratlosigkeit breitgemacht. Was dagegen hilft? Offensichtlich ein Klassiker der Literaturgeschichte. „Decamerone“ von Giovanni Boccaccio verkauft sich derzeit wieder gut. Das beobachtet zumindest David Schlegel von der „Schlegelschen Buchhandlung“ in Weißenhorn. Aus seiner Sicht ist der neue Verkaufsschlager kaum eine Überraschung: „In diesen Kurzgeschichten geht es um eine Gesellschaft, die sich zurückzieht, um die Pestwelle zu überleben.“
Buchtipps vom Buchhändler aus Weißenhorn
Literatur, in der sich die große Krise spiegelt, ist aber nur ein denkbares Mittel, um sie zu bewältigen, zu verdauen. Wenn es nach Schlegel geht, hilft jetzt auch Literatur, die von Sorgen ablenkt – „man unterhält sich sowieso ständig über das Virus-Thema.“ Die Empfehlung des Buchhändlers: Tom Wolfes Roman „Ich bin Charlotte Simmons“. Die Geschichte führt in die Gefühlswelt einer jungen Frau an einem US-amerikanischen Elite-College. Das Buch wolle er selbst wieder einmal lesen, sagt Schlegel. Es liegt auf seinem Nachtkästchen bereit. Aber allzu viel Zeit hat er nicht: In der Not der Krise hat er mit seinem geschlossenen Buchladen einen Lieferservice organisiert. Er bietet literarische Versorgung, um im Gespräch zu bleiben, bevor alle Kunden zu Amazon abwandern. Restaurants dürfen ja schließlich auch liefern, dachte sich Schlegel. „Und die Leute denken sonst, wir hätten den Betrieb eingestellt.“ Mit dem Ordnungsamt habe man alles schnell geklärt – und so brachte das Team um Schlegel die Bücher auf den Weg, in Weißenhorn und Umgebung, auf dem Fahrrad, im Auto, zu Fuß.
Die Nachfrage ist groß, 40 bis 50 Lieferungen schaffen die Mitarbeiter täglich, und manchmal lässt sich trotzdem nicht alles an einem Tag abhaken. „Mit dem normalen Betrieb kann man das zwar nicht vergleichen“, sagt Schlegel. „Aber es kommt Umsatz rein.“ Und es geht um den Kontakt: „Da wird auch der Reclam-Band für 2,99 Euro geliefert. Egal was der Kunde bestellt, er bekommt es.“ Im geschlossenen Laden ruhen viele Bücher in gut gefüllten Regalen. Dem Buchhandel gehe es trotzdem nicht ganz so miserabel wie anderen Sparten, sagt Schlegel: „Der Handel kann irgendwie weitermachen. Jeder Buchladen hat heute einen eigenen Online-Shop.“ Was Literatur gerade jetzt zu bieten hat? Schlegel sagt: „Die Flucht in fremde Welten. Reisen in andere Länder und andere Zeiten. Das ist jetzt für viele wichtig. Vor allem für Familien mit Kindern, aber auch als Mittel gegen Einsamkeit, egal ob in der Stadt oder auf dem Land.“
Die Bücherwelt in Senden macht sich für den Neustart bereit
Heiko Müller blickt auf die vergangenen Wochen zurück und sagt: „Wir haben bisher sehr, sehr viel Solidarität erlebt.“ Er leitet seit 2006 die Bücherwelt in Senden und seine Stammkunden sind ihm treu – auch in der Krise. „Eine Kundin kam auf mich zu: Stellen Sie mir einen Gutschein aus, ich bezahl ihn, dann haben Sie ihr Geld gleich jetzt. Zum Einkaufen komm ich eben später.“
Auch Müller hat einen Lieferservice eingerichtet, der Literatur vor die Haustür liefert. Das funktionierte aber nur mit großem Kraftaufwand. „Ohne mein Team? Keine Chance“, sagt der Buchhändler. Mit Privatautos und Fahrrädern fahren sie aus, der Chef selbst nimmt von Montag bis Freitag im Home Office Bestellungen entgegen. Einen Lieferservice von zu Hause dirigieren – das sei so gar nicht sein Ding. „Wir sind Buchhändler und keine Paketboten. Ich vermisse es, im Laden zu stehen“, sagt Müller – und liefert trotzdem, für ein wenig Umsatz und für den Draht zu den Kunden.
Heiko Müller von der Bücherwelt Senden ist erleichtert
Müller ist erleichtert, dass die Vorschriften in Bayern geändert wurden. Sein Geschäft darf am kommenden Montag wieder öffnen – wenn auch unter Sicherheitsvorkehrungen. Die Lockerungen helfen. Kommt der Buchhandel doch mit einem blauen Auge davon? „Ich denke, wir kommen mit zwei blauen Augen davon“, entgegnet Müller. Die Durststrecke trifft immer noch alle: Druckereien, Großhändler, Verlage, kleine Läden. Das Ostergeschäft ist der Branche ersatzlos weggebrochen.
Sein Laden sei jetzt startklar, sagt Müller. Die Hygienemaßnahmen sind organisiert, von der Desinfektionsstation im Laden bis zum sogenannten „Kundenstopper“ – „Ich mag das Wort gar nicht“, sagt Müller, weil es so hart und brachial klingt. Aber eine Sicherheitsbarriere zwischen Verkäufer und Kunde sei unverzichtbar. Nun muss er nur noch eine Frage klären: Wie viele Kunden dürfen auf einmal in den Laden? Zwei oder vier?
Heiko Müller glaubt, dass Literatur in der Coronakrise viel bewirkt
„Ich glaube, dass Literatur jetzt ganz viel bewirken kann“, sagt Müller. Eine seiner Kundinnen, eine ältere Dame, hat dafür einen Begriff gefunden: „Trostlesen“, so nennt sie die zauberhafte Wirkung der Literatur. „Das habe ich gleich in meinen Sprachgebrauch aufgenommen“, sagt der Buchhändler. Er selbst empfiehlt zur Trostlektüre Lucinda Rileys Romanreihe „Die sieben Schwestern“. Oder aber: „Tante Martl“ von Ursula März – eine Geschichte einer starken Frau, die in der Zeit einer Wirtschaftskrise spielt.
Telefoniert man mit Waltraud Gruss, erzählt sie von großen Sorgen – doch eines scheint größer als die Angst: der Zusammenhalt. „Für den Start am Montag haben wir fast alles bereit. Bis auf die Sicherheitstrennwand. Aber da hilft mir noch ein Kunde, der so etwas basteln kann“, sagt sie. Das ist nicht die einzige Unterstützung, die ihr Neu-Ulmer Buchladen „Schmiedel & Gruss“ erfährt. Stammkunden haben in der Krise viel bestellt, manche nähen für den Laden Masken und der Bioladen von nebenan leiht seine Absperrhilfen aus. Als Grass am Telefon von der Krisenlage berichtet – „Man wurschtelt sich so durch ...“ – bringt eine Angestellte des Lebensmittelladens gerade das Material vorbei. Dennoch: „Die Branche trifft es hart“, sagt Gruss. „Keine Lesungen, keine Buchmessen. Die Verlage haben so viele Bücher veröffentlicht, die sie eigentlich vorstellen wollten.“
Die Buchhandlung Schmiedel & Gruss in Neu-Ulm öffnet wieder
Mehr als zwei Personen werden die Buchhandlung von Waltraud Gruss und Renate Schmiedel nicht betreten dürfen, wenn das Geschäft am Montag neu beginnt. Dass sich die Ladentüre endlich wieder öffnet, weckt bei Gruss viel Hoffnung, aber auch die Angst vor einem zweiten Lockdown. „Wenn der Laden wieder zumachen müsste, sähe es sehr düster aus.“ Deshalb befürwortet sie die Vorsichtsmaßnahmen.
„Die Bagage“ ist Gruss’ Tipp für die Krise. Monika Helfer erzählt in diesem Roman eine Frauengeschichte, die Mut macht. Wem der Sinn aber nach launiger Leseunterhaltung steht, dem empfiehlt die Fachfrau „Kaffee und Zigaretten“ von Ferdinand von Schirach. Auch Gruss’ Buchhandlung hat zwischenzeitlich einen Lieferservice eingerichtet. Bei der Konditorei Dreihäupl können Kunden beim Kauf von Kuchen und Gebäck auch gleich ihr bestelltes Buch abholen. Diese Solidarität der kleinen Läden hat Gruss noch nie erlebt: „Es ist ein guter Austausch, so gut wie nie zuvor. Alles wird ein bisschen menschlicher.“
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