Bis Silvester 1892 haben die Kirchenglocken das Neue Jahr in Bayern und Württemberg zu verschiedenen Zeiten eingeläutet. Glatte 23 Minuten früher als in Ulm ließ man in Neu-Ulm die Sektkorken knallen. Am 25 März 1892 konnte man im Ulmer Tagblatt nachfolgende Bekanntmachung lesen: „Entsprechend des Gemeinderates vom 9. Februar diesen Jahres wird hierdurch bekannt gemacht, dass die Stadtuhren in der Nacht vom 31. März auf 1. April um 23 Minuten vorgerückt werden“. Bis dahin gingen in Bayern die Uhren anders. Es herrschten zwei Zeitzonen zwischen den beiden Königreichen Bayern und Württemberg.
Das ist nur eine der fast unglaublichen Geschichten, mit welchen der Burlafinger Uhrensammler Rudolf Leiner die Führung durch sein Chronometerreich umrahmt. „Die Uhren messen die Zeit immer gleich. Verschiedene Zeitzonen und Kalender hatten oftmals kuriose Auswirkungen“, lachte der pensionierte Ingenieur für Maschinenbau, für den seine Uhren „faszinierende Einblicke in das Räderwerk der Zeit und der Geschichte“ bieten.
Anekdoten zur Zeit kennt Leiner viele: „Julianische“ und Gregorianische“ Zeitrechnungen lösten sich ab. Mit Waffengewalt mussten die widerstrebenden Engadiner 1917 zum Gregorianischen Schweizer Kalender bekehrt werden. Russland konnte seine Oktoberrevolution nach der Kalenderänderung erst am 7. November feiern.“ Die kalendarische Zeitumstellung in der Türkei führte zu nachfolgender Grabinschrift, die Rudolf Leiner in der Nähe von Antalya fotografiert hat: „Geboren 1310 – Gestorben 1974.“ „Nicht die Uhren, die Menschen bringen die Zeiten durcheinander,“ sagt er. In seinem Garten leuchtet das Zifferblatt der alten Burlafinger Kirchturmuhr, welche bei seiner Geburt die bayerische Zeit anzeigte.
Jedes seiner Chronometer erzählt eine Geschichte. So sägen an einer Schweizer Uhr zwei Zimmerleute an der Zeit. Auf dem „Planetariumschronometer“ erscheinen mit den Ziffern die Mondphasen und Sternbilder, zwei Schmiede schlagen mit Hammer und Amboss in einer Schwarzwalduhr die Stunden an, während eine französische Revolutionsuhr mit dem Stundenschlag „Liberté, Egalité, Fraternité“ verkündet. Nur mit einem starken Vergrößerungsglas ist die wie eine Fahrradkette gearbeitete Antriebskette einer Taschenuhr zu erkennen, die von Frauen in Handarbeit hergestellt wurde. „Uhren sind technische Wunderwerke, von der Sonnenuhr bis zur Atomuhr sind sie für den Menschen Taktgeber im unbegreiflichen Rhythmus des Universums. Das wird besonders beim Glockenschlag des Jahreswechsels bewusst“, meint der Burlafinger Uhrensammler nachdenklich, als er die Geschichte des Mailänder Uhrmachers Azzo Visconti erzählt. 1336 hatte der Patrizier die geniale Idee, die Zeiger der Uhr mit einer lauten Glocke zu verbinden. Er installierte die erste Schlaguhr der Welt. Nun konnten die Ratsherren, Henker, Gläubiger und die Verliebten hören, „was es geschlagen hat.“
Von der gotischen Eisenuhr über die Uhrwerke von alten Turmuhren oder Wand- und Reiseuhren aus allen Epochen kann man bei Rudolf Leiner Technisches, Physikalisches, Geschichtliches, Nachdenkliches über die Zeit und Theologisch-Heiteres über Zeitläufe und skurrile Kalendergeschichten erfahren.
Er ist ein Verfechter der „neuen Langsamkeit“ des österreichischen Philosophen Peter Heintel, der den „Verein zur Verzögerung der Zeit“ gegründet hat. Der anerkannte Gruppendynamiker konnte zum Beispiel japanische Firmen davon überzeugen „Fenstergucker“ einzustellen, die nichts anderes zu tun hatten, als „hinaus zu schauen und die Ideen ihrer inneren und äußeren Sicht weiter zu geben“. Uhren vermitteln Muse und die Musen waren schon in der Antike der Anstoß für die Grundlagen menschlicher Kultur,“ sagt Rudolf Leiner. Bei der Frage was denn Zeit eigentlich sei, hält er es mit dem Kirchenvater Augustinus. „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Wenn ich es aber einem der mich fragt erklären soll, weiß ich es nicht,“ antwortete Augustinus auf diese Frage. „Genau wissen es nur die Uhren, aber die verraten ihr Geheimnis nicht,“ weiß der Burlafinger Chronometerphilosoph, der dem Besucher zum Abschied den Rat gibt: „Zeit ist eine Chance ohne Wiederkehr. Man sollte sie auch im neuen Jahr nutzen.“