Ihr Verein „Wir sind viele“ hat die Berufungsverhandlungen gegen einen ehemaligen Maristenfrater begleitet, dem vorgeworfen wird, Schüler in Mindelheim sexuell missbraucht zu haben. Wie haben Sie den Prozess empfunden?
ANDREAS ERNSTBERGER: Man hat sich Zeit genommen und viele Zeugen befragt. Die Atmosphäre war angemessener als beim ersten Prozess am Amtsgericht, weil die Schwere der angeklagten Taten gewürdigt wurde. Meiner Meinung nach hätte man auch zu einem anderen Urteil kommen können. Es ist schlimm, dass wir einen Serientäter haben, der immer wieder auf Bewährung verurteilt wird. Der Täterschutz ist ein Schlag ins Gesicht für alle Betroffenen.
Die Nebenklage hat Revision gegen die Entscheidung eingelegt, jetzt geht der Fall in die nächste Instanz. Sind Sie froh, wenn endlich mal ein endgültiges Urteil steht?
ERNSTBERGER: Ich finde es gut, wenn sich die Justiz die Zeit nimmt. Belastend ist es für die, die es betrifft, also den Nebenkläger und seine Familie.
CHRISTIAN FRÖHLER: Wenn man eine solche Aufarbeitung angeht, ist das eine riesige Belastung. Als Zeuge in Straf- oder Zivilprozessen auszusagen oder die sogenannte „Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen“, kurz UKA, zu kontaktieren, ist eine schwerwiegende Entscheidung. Das sollte man nur tun, wenn man sich vorher ausgetauscht hat, etwa mit unserem Verein oder einer Beratungsstelle. Die UKA wurde von der Kirche initiiert, sie als erste Anlaufstelle zu nutzen, halte ich für problematisch. Bei der UKA muss man keine Beweise vorbringen, es reicht, wenn man Vorfälle glaubwürdig schildert – das ist ein großer Vorteil. Doch es gibt ein großes Aber: ein äußerst kompliziertes Regelwerk, hinter dem sich die Kirche verschanzen kann. Und man kann dort zwar Geld bekommen, aber keine Hilfe.
Hat Ihr Verein Kontakt zu den Maristen oder der Ansprechpartnerin des Ordens für Betroffene?
FRÖHLER: Ja, aber es ist schwierig. Wir haben den Eindruck, dass die Maristen grundsätzlich eine Motivation haben, sich mit der Sache auseinanderzusetzen, aber die Kommunikation verläuft schleppend. Jede Seite, auch wir, versucht, so klar wie möglich zu kommunizieren und keine Fehler zu machen. Das ist keine vertrauensvolle Kommunikation. Es gibt eine lange Liste, warum wir dem Orden nicht über den Weg trauen. Da ist etwa der ehemalige Strafverteidiger des Täters, der einst als Ansprechpartner für Opfer gedient hat. Oder die Tatsache, dass der Orden dem ehemaligen Frater die Wohnung zahlt. Der Maristenorden zeigt in unseren Augen durch seine Handlungen, dass es mehr um Täterschutz geht als um die Opfer.
Was macht Ihr Verein, wenn das Verfahren beendet ist?
FRÖHLER: Wir sind entschlossen, weiterzumachen, denn es besteht Bedarf, den Betroffenen zu helfen. Diese Menschen sind ja nicht einfach verschwunden. Wir beraten: Was kannst du konkret machen? Schaffst du das überhaupt? Wir helfen auch beim Ausfüllen von Anträgen. Und jüngst waren wir in Berlin beim Verein „Eckiger Tisch“. Der hat ein deutschlandweites Aktionsbündnis von Initiativen gegründet, die sich mit Missbrauch innerhalb der Katholischen Kirche befassen. Das verleiht dem Ganzen eine ganz andere Power und Dynamik. Wir möchten auch alle Betroffenen und Angehörigen ermutigen, sich bei uns zu melden. Jede Stimme zählt, und es ist wichtig, den Mut zu fassen, den ersten Schritt zu machen. Wir wissen, wie schwierig das sein kann, aber wir sind da, um zuzuhören und zu unterstützen.
Worum ging es bei dem Treffen mit dem Eckigen Tisch genau?
FRÖHLER: Es waren 24 Personen da, die für ihre Vereine stehen. Da sieht man, wie groß dieser Flächenbrand ist, der immer noch lodert. Wir wollen auf verschiedenen Ebenen arbeiten: hier vor Ort, aber auch deutschlandweit. Der Eckige Tisch spricht auch mit Bundespolitikerinnen und Politikern, das ist eine sehr gute Ergänzung zu unserer Arbeit.
ERNSTBERGER: Es fehlt an einer unabhängigen Aufarbeitung. Ich verstehe die Kirche als moralische Instanz. Was würde denn Jesus dazu sagen? Würde er empfehlen: Beauftragt eine Kanzlei und die macht eine Aufarbeitung? Um ihrer eigenen Moral gerecht zu werden, müsste die Kirche Verantwortung übernehmen. Dass sie sich selbst um die Aufarbeitung kümmert, ist absurd, im Dieselskandal haben sich auch nicht die Autofirmen darum gekümmert. Die Kirche müsste vollumfänglich mit Ermittlungsbehörden zusammenarbeiten und Unterlagen herausgeben, vollständig und nicht mit fehlenden Seiten oder geschwärzten Stellen.
FRÖHLER: Die Aufarbeitung geschieht nur tröpfchenweise und nur dann, wenn man es nachweisen kann. Ein Zeichen, das die Kirche und jeder einzelne Orden setzen könnte: sich dazu verpflichten, in Zivilprozessen auf die Verjährung zu verzichten, wie jüngst im Erzbistum München/Freising. Viele Betroffene leiden bis heute unter den schweren Folgen des Missbrauchs und erleben massive persönliche Krisen. Sie kämpfen mit Depressionen, geraten in Suchtproblematiken und sind oft nicht in der Lage, eine Partnerschaft oder gar eine Familie zu gründen. Manche konnten nie einen Beruf ausüben, stehen daher ohne jegliche Altersvorsorge da. Dabei geht es nicht um Luxus oder Komfort, sondern um Gerechtigkeit und grundlegende Unterstützung. Es braucht konkrete Maßnahmen, die den Betroffenen helfen, ihre Würde und ihre Lebensgrundlage wiederzuerlangen – und nicht nur symbolische Gesten.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden