Es ist Vormittag, ungefähr halb Elf. Die Sonne scheint auf ein Haus in Unterrieden, in dem seit gut zwei Wochen drei ukrainische Frauen mit ihren Kindern wohnen. Hinter ihnen liegt ein normales Leben. Arbeit, Schule, Kindergarten. Treffen mit Freunden, Hobbys. Dann kamen die Bomben – und alles änderte sich.
Die Ukrainerin Olga Schaut kommt ursprünglich aus Schytomyr, einer 270.000-Einwohner-Stadt rund 150 Kilometer westlich von Kiev. Vor 13 Jahren kam sie nach Deutschland, seit 2018 lebt sie in Unterrieden. Hier hat sie mit ihrem Mann ein Haus gebaut. Die vergangenen zwei Wochen hatte sie zwar Urlaub, der war aber alles andere als erholsam. Denn sie organisiert in ihrem Wohnort die Unterbringung von ukrainischen Frauen und Kindern, die vor dem Krieg flüchten. Wie besagte drei Frauen, die sich jetzt in Unterrieden ein Haus teilen.
Julias Mann darf nicht ausreisen
Dort öffnet Julia die Tür. Die 19-Jährige ist zusammen mit ihrem Sohn nach Unterrieden gekommen. Ihr Mann ist trotz Krieg in ihrem Heimatland geblieben, darf nicht ausreisen. Aber er lebt noch, sagt sie. Zuvor war sie Verkäuferin in einer Drogerie, ebenfalls in Schytomyr. Marianna befindet sich noch im Nebenraum, kommt aber auch nach kurzer Zeit an den Tisch.
Sie ist 25, war Nageldesignerin, erzählt sie. Die junge Mutter spricht kein Deutsch, deshalb übersetzt ihre ehemalige Nachbarin, Organisatorin Schaut. „Ich kannte sie schon als Kind“, sagt die 34-Jährige.
Ein Unterrieder holte die Frauen mit seinem Auto aus Polen ab
Der Besitzer des Hauses, in dem die Ukrainerinnen jetzt unterkommen, holte Marianna zusammen mit ihrer Mutter Irina und ihrer zweieinhalbjährigen Tochter Carina aus Polen ab. Die Fahrt dauerte rund 15 Stunden.
Das ukrainische Nachbarland war die erste verhältnismäßig sichere Station ihrer Flucht. Denn dort konnten sie in einer Sammelunterkunft unterkommen. Erst rund zehn Stunden in einem Zelt, dann etwa zweieinhalb Tage in einer umfunktionierten polnischen Sporthalle – zusammen mit ungefähr 3000 anderen Geflüchteten. Der Weg dorthin sei „wahnsinnig“ gewesen, wie Marianna sagt. Das Fluchtauto habe schon zuvor eine Macke gehabt, weshalb es „gefühlt alle halbe Stunde repariert werden musste“.
Teure Transporte an die polnische Grenze
Viele, die nach Polen flüchten wollen, haben aber kein Auto. Die müssen sich von anderen Menschen Hilfe holen. „Es gibt immer gute und schlechte Menschen“, sagt Schaut. Doch auch sie kann verstehen, dass der Transport in jedem Fall ein gefährliches Unterfangen ist. „Natürlich machen das viele nicht umsonst“, sagt sie.
Angekommen in Polen bekam die Gruppe mit Marianna auch Nahrung und Kleidung. Sogar einen Kinderspielplatz gab es, erzählt sie. Die Handys hatten allerdings keinen Empfang. „Das war für sie ein Schock“, übersetzt die Unterriederin Olga Schaut.
Schaut: „Es sind nur noch Ruinen, zu denen man zurückgehen kann."
Für sie, die bereits seit 13 Jahren in Deutschland lebt, stellt Putins Krieg ebenfalls eine absolute Katastrophe dar. „Ich wollte eigentlich jetzt, nach vier Jahren, meine Heimat wieder besuchen. Aber das ist jetzt alles weg“, sagt die 34-Jährige mit Tränen in den Augen. „Es sind nur noch Ruinen, zu denen man zurückgehen kann. Die russischen Soldaten schauen nicht, wo sie hinschießen.“
Auch ihren 80-jährigen Großvater hat sie bei sich im Haus aufgenommen. Er kommt jetzt im Kinderzimmer ihres zweieinhalbjährigen Sohns unter, der deshalb nun bei ihr und ihrem Mann im Bett schläft. Ihr Opa ist bedrückt, sagt sie. Er betritt den Raum. Erkundigt er sich kurz, was Sache ist. Mit einem nachdenklichen Blick macht er sich dann zum Spaziergang auf.
Die erste Aktion des Tages ist ein Telefonat
Olga Schaut wartet jetzt vor allem noch auf ihre beste Freundin, die sich mit ihrer Tochter noch auf der Flucht befindet. Die Eltern und andere Verwandte der Unterriederin befinden sich ebenfalls noch in der Ukraine. Mit denen telefoniert sie jeden Tag. „Das ist das Erste, was man jeden Tag macht“, sagt sie. Alle sind noch wohlauf, sagt sie.
Ihre Schützlinge in Deutschland befinden sich zur Zeit des Gesprächs in Mindelheim, um Passfotos zu machen. Dafür hat sie einen Bus organisiert. Die brauchen sie, um sich in Deutschland als Geflüchtete anzumelden. Sie freue sich über das Engagement, mit dem ihre Gemeinde helfen will. Anfangs hat sie das Nötigste selbst gekauft. Dann haben schnell ihre Nachbarn und Bekannten angefangen, mitzumachen. „Meine Garage sieht mittlerweile aus wie ein Rot-Kreuz-Laden“, sagt sie.
Unglaubliche Hilfsbereitschaft aus dem Unterallgäu
Kleidung, Essen, alles Mögliche sei da, das sie unter den Familien aufteilen kann. 20 Ukrainerinnen und Ukrainer haben Leute aus Unterrieden und anderen Unterallgäuer Gemeinden außerdem aufgenommen. In leeren Wohnungen, Häusern, aber auch bei sich zuhause. „Ich war erstaunt, wie viele Menschen das machen“, sagt Schaut. Ihr Bruder ist wie sie schon mehrere Jahre in Deutschland. Er wohnt in München und fährt Flüchtende auf eigene Kosten von der polnischen Grenze nach Deutschland.
Was sie aktuell vor allem sucht, sind weitere Menschen, die sowohl der deutschen, als auch der ukrainischen Sprache mächtig sind. Auch weitere Wohnungen oder Räume, in denen Flüchtende unterkommen können, seien weiterhin wichtig. Die Gemeinde suche aktuell nach einer Lehrkraft für die Kinder, die ihnen Deutsch beibringt. Auch die Vereine nehmen die Kinder unter anderem zum Fußballspielen mit. „Es hat sich so wahnsinnig ausgeweitet“, freut sie sich. Ihr Alltag geht jetzt mit Ende des „Urlaubs“ wieder weiter. Ihre neue Rolle aber ebenso.