Der Missbrauchsprozess um einen ehemaligen Frater und einstigen Leiter des Mindelheimer Maristeninternats geht in die nächste Instanz: Ein Nebenkläger und die Staatsanwaltschaft haben Rechtsmittel gegen das Urteil des Amtsgerichts Memmingen eingelegt. Das hatte den Ex-Frater zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten auf Bewährung verurteilt. Nun wird sich das Landgericht damit beschäftigen. Eine große Frage zum anstehenden Prozess ist derzeit aber noch offen – ebenso wie die Frage nach weiteren Ermittlungen gegen den Angeklagten. Denn die schließt die Staatsanwaltschaft aktuell nicht aus.
Das Jugendschöffengericht um Richter Dr. Markus Veit am Amtsgericht hatte es Ende Januar als erwiesen angesehen, dass der heute 62-Jährige vor rund 20 Jahren einen 13-Jährigen mehrmals in sein Bett gelockt und sich an ihm gerieben hatte, und dass er einen damals 17-Jährigen auf der Toilette bedrängt hatte. Beide Taten hatte der Mann bereits am ersten Prozesstag gestanden. Nicht zugegeben hatte er den dritten Tatkomplex der Anklage, in dem es um mehrfache Vergewaltigungen eines damals 15-Jährigen ging.
Alles drehte sich um die Frage, ob am Vergewaltigungsvorwurf etwas dran ist
Sieben Prozesstage lang drehte sich deshalb viel um die Frage, ob an den schweren Vorwürfen des heute 36 Jahre alten psychisch kranken Mannes etwas dran sein kann. Sogar hochrangige Ordensbrüder der Maristen waren als Zeugen vor Gericht geladen – zum konkreten Fall konnten sie jedoch wenig beitragen. Die forensische Psychologin Dr. Monika Aymans schloss in ihrem Gutachten nicht aus, dass es sich bei den Vorwürfen des mutmaßlichen Opfers um Scheinerinnerungen handelte. Das Gericht sah die angeklagten Taten ebenfalls nicht als erwiesen an: „Wenn die Beweise nicht ausreichen, müssen wir ihn freisprechen“, sagte Richter Veit in seiner Urteilsbegründung.
Zugutekamen dem ehemaligen Frater, den der Orden im Herbst 2022 rausgeworfen hatte, unter anderem sein Geständnis, dass die beiden Taten, für die er verurteilt wurde, rund 20 Jahre her sind und dass er seit dem Strafbefehl von 2008 nicht mehr straffällig geworden ist. Der ehemalige Frater muss 150 Sozialstunden ableisten und bekommt einen Bewährungshelfer zur Seite gestellt.
Dass der einstige Maristenbruder zum dritten Mal zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war, hatte bei Beobachtern teils für Verwunderung und Unverständnis gesorgt. „Uns zeigt dieser Prozess, bei dem der Serientäter zum wiederholten Mal eine Bewährungsstrafe erhält, dass die juristische Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch mühsam, aber auch sehr wichtig ist“, erklären Christian Fröhler und Andreas Ernstberger, einst Schüler des Maristeninternats und Betroffene, die sich mit anderen Ehemaligen zusammengeschlossen und die Verhandlung begleitet haben. Der Prozess decke auf, dass sexueller Missbrauch überall möglich sei, „insbesondere dort, wo der mögliche Täter wie eine charismatische Führungsfigur erscheint“.
Es sei deshalb wichtig, die Augen offenzuhalten, Fragen zu stellen, zuzuhören, zu zweifeln und unbequem zu sein. Wer Unterstützung sucht, dem empfehlen Fröhler und Ernstberger das Hilfetelefon (0800/2255530) sowie den Verein „Eckiger Tisch“. Wenn es um das Maristeninternat Mindelheim geht, wollen sie selbst als erste Anlaufstelle unter wirsindviele@gmx.net zur Verfügung stehen.
Frater Michael Schmalzl, Vizeprovinzial der Maristenprovinz Europa-Zentral-West, wollte das Urteil nicht kommentieren, bedauerte aber, dass der Angeklagte darauf verzichtet hatte, sich an die anwesenden Betroffenen zu wenden. „Auch hätte ich grundsätzliche Worte des Bedauerns bezüglich seiner Taten erwartet“, so Schmalzl. „Ich hätte mir mehr und eindeutigere Worte der Reue und des Mitgefühls gewünscht.“
So könnte es am Landgericht Memmingen weitergehen
Mit großem Interesse wird vermutlich auch das nächste Kapitel des Missbrauchsverfahrens am Landgericht Memmingen verfolgt. Noch ist unklar, ob es dabei um alle drei Komplexe der Anklage gehen wird, die auch am Amtsgericht behandelt wurden, oder nur um den Vorwurf der Vergewaltigung, von dem der 62-Jährige in erster Instanz freigesprochen wurde.
Der Vertreter des mutmaßlichen Vergewaltigungsopfers hatte, wie bereits direkt nach dem Urteil angekündigt, Rechtsmittel gegen den Freispruch eingelegt. Weil die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt hat, geht die Sache nun ans Landgericht Memmingen. Unklar ist jedoch noch, ob die Staatsanwaltschaft ihre Berufung nur auf den Vergewaltigungsfall beschränkt oder ob noch einmal alle drei Tatkomplexe der Anklage aufgerollt werden. „Hierzu wird zunächst die schriftliche Urteilsbegründung abgewartet“, erklärte Thorsten Thamm, der Sprecher der Behörde.
Es ist gut möglich, dass es am Landgericht nur noch um den Vorwurf der Vergewaltigung geht, denn Amtsrichter Markus Veit und seine beiden Schöffen sind in ihrem Urteil dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft gefolgt, was die Einzelstrafen für die sexuelle Nötigung (ein Jahr und drei Monate) und die vier Fälle des sexuellen Missbrauchs (je acht Monate) betrifft. Mit dem Prozessbeginn am Landgericht kann einem Sprecher zufolge in etwa einem Vierteljahr gerechnet werden.
Die Staatsanwaltschaft schließt weitere Ermittlungen gegen den Ex-Frater nicht aus
Ebenfalls möglich ist es, dass es noch zu weiteren Ermittlungen gegen den ehemaligen Frater kommt. Im Prozess war mehrfach von einer Liste mit Namen von rund 20 potenziellen Opfern die Rede, die dem Maristenorden vorliege. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass ein Teil dieser Namen bereits bekannt sei und diese Fälle bereits in früheren Ermittlungs- beziehungsweise Strafverfahren gegen den heute 62-Jährigen eine Rolle gespielt haben. „Es kann aber derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass auf der Liste auch Namen potenzieller Opfer stehen, die den Ermittlungsbehörden noch nicht bekannt sind“, so Thamm auf Nachfrage unserer Redaktion. Der Provinzial der Maristen, der in Memmingen als Zeuge ausgesagt hatte, habe diese Liste mitgebracht, so Thamm. Der Ordensmann habe aber „abgelehnt, diese an die Staatsanwaltschaft zu übergeben“.
Deshalb prüfe die Staatsanwaltschaft derzeit, welche rechtlichen Möglichkeiten sie habe, an diese Liste zu kommen, und dadurch derzeit noch nicht bekannte potenzielle Opfer zu ermitteln. Thorsten Thamm bittet aber auch mögliche Opfer, sich bei der Staatsanwaltschaft Memmingen zu melden. Die Ermittlungsarbeit würde so „deutlich erleichtert“.