Dass in Gerichtsprozessen immer mal wieder Überraschendes passiert, ist nicht ungewöhnlich. Der zweite Tag im Missbrauchsprozess gegen einen ehemaligen Maristenfrater und Internatsleiter in Mindelheim begann und endete jedoch mit großer Verblüffung bei den zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörern.
Zunächst sagten zwei ehemalige Erzieherinnen aus, die angaben, von Missbrauchstaten nichts mitbekommen zu haben. Der Frater sei ein „väterlicher Freund“ für die Schüler gewesen, berichtete eine von ihnen. Er habe aber Dinge gemacht, die sie selbst nicht tun würde, etwa, die Schüler zu umarmen oder mit ihnen ein Bier zu trinken.
Für den ersten Überraschungsmoment sorgte ein ehemaliger Erzieher. Er hatte am ersten Prozesstag vom Angeklagten das Bild eines Mannes gezeichnet, der ihn nach einem Streit vorm Arbeitsgericht zu Unrecht beschuldigt habe, auf seinem PC pornografische Inhalte gespeichert zu haben. Wie sich nun herausstellte, waren die Anschuldigungen aber keineswegs so aus der Luft gegriffen: Richter Dr. Markus Veit hatte im Nachgang in der Akte einen Strafbefehl gegen den Erzieher entdeckt. Demnach hatte dieser vier Mal Jugendlichen pornografisches Material auf seinem Rechner oder per Diskette zugänglich gemacht und dafür eine Geldstrafe bezahlt.
An den Strafbefehl wegen der Pornos auf seinem Rechner, konnte sich der Erzieher nicht erinnern
Davon höre er heute zum ersten Mal, sagte der Erzieher nun. Er könne sich daran nicht erinnern. Richter Veit glaubte ihm, dass er die mehr als 20 Jahre alte Sache verdrängt hatte, stellte aber auch fest, dass das negative „Charakterbild des Angeklagten wieder weggewischt sei“. Die Zeugenaussagen, die folgten, zeichneten jedoch kein allzu gutes Bild von dem Ex-Frater, den der Maristenorden inzwischen ausgeschlossen hat, wie im Prozess ebenfalls öffentlich wurde.
Zunächst berichtete ein 38-Jähriger davon, wie er Anfang der 2000er nach Mindelheim gekommen war und vom ersten Tag an Gerüchte gehört habe, „dass im Internat was vor sich geht“. Er selbst sei damals ein bisschen berechnend gewesen, er habe die Vorteile gesehen, „sugardaddy-mäßig“, sagte er. „Aber das komische Gefühl war immer dabei.“ Er berichtete, wie der Frater ihm angeboten habe, in seinem Zimmer zu schlafen. „Da wurde viel Alkohol getrunken und irgendwann hat man dann auch sexuelle Praktiken ausgeübt.“ Er sei damals erwachsen gewesen, als er aber davon Wind bekommen habe, dass der Frater auch etwas mit Minderjährigen gehabt habe, habe er sich an einen der Erzieher gewandt. Heute sehe er die Dinge etwas anders, erklärte der Mann, schließlich habe der Frater eine Machtposition innegehabt. Er spiele mit dem Gedanken, sich professionelle Hilfe zu holen.
Dem Mitschüler hatte der Zeuge von den Sexpraktiken mit dem Frater erzählt
Das Gericht hat den 38-Jährigen auch deshalb befragt, weil er eine Zeit lang „Stubenkamerad“ des Mannes war, der dem Ex-Frater nun mehrfache Vergewaltigungen vorwirft. Damals habe sein Mitschüler nichts dergleichen erzählt, berichtete der 38-Jährige. Er habe ihn aber über die Sexpraktiken mit dem Frater ausgefragt und habe es offenbar nicht glauben können.
Ein Erzieher, der wohl den Stein ins Rollen gebracht hatte, nachdem sich ihm zwei Schüler geöffnet hatten, kam als nächster Zeuge an die Reihe. Er habe damals eine Liste mit mehr als zwei Dutzend Namen möglicher Opfer an die Kripo weitergeleitet, schilderte der Mann vor Gericht, doch viele hätten Aussagen zurückgezogen oder seien plötzlich vom Internat verschwunden. Er berichtete von sexuellen Anspielungen des Fraters und beschrieb einige Situationen, die ihm merkwürdig vorkamen, etwa, dass der Frater spätabends Schüler zu sich ins Zimmer bestellt habe, die zu dieser Zeit normalerweise nur noch Boxershorts trugen. Auch eine Sauna habe der Frater bauen lassen, die zwar die Schüler genutzt hätten, von deren Existenz die Mitbrüder aber erst „Monate später“ erfahren hätten.
Auf der Hütte des Ordens in Silum sei viel Alkohol geflossen
Immer wieder taucht in den Aussagen an diesem Prozesstag der Name eines Ortes auf: Silum in Liechtenstein, wo es eine Hütte des Ordens gibt, die der Frater regelmäßig mit Jugendlichen besucht hat. Von Nackt-Schneebaden ist die Rede, von viel Alkohol, der geflossen sei, Bier, aber auch Klosterschnaps. Ein ehemaliger Zivildienstleistender, der dort offenbar mit dem Frater ein Zimmer geteilt hat, berichtet von körperlichen Annäherungsversuchen, die er klar abgelehnt habe. Auch der Fall des Jugendlichen, der zum ersten Strafbefehl geführt hatte, begann offenbar auf Silum – mit Umarmungen, wie der Mann nun aussagte. Beim Frater zu übernachten, habe er zweimal abgelehnt. „Wahre Liebe gibt es nur unter Männern“, habe der Frater gesagt, schildert der Mann. „Zipfelliebe.“
Als dann ein 36-Jähriger aussagt, ist es trotz der vielen Anwesenden im Saal mucksmäuschenstill. Er ist das mutmaßliche Opfer zu einem der drei Fälle, die dem Ex-Frater aktuell vorgeworfen werden, es geht um eine sexuelle Nötigung auf der Toilette. Der Mann beschreibt, wie es auf Silum zu Umarmungen gekommen war, als er 14 oder 15 Jahre alt war. „Es waren lange Umarmungen“, sagt er und atmet tief durch. „Ich kann mich erinnern, wie er seinen Bart an mich gerieben hat. Bei einer Katze würde man Schnurren sagen.“ Er habe den Frater nach dem Warum gefragt und der habe ihm erklärt, dass er in seiner Führungsposition einsam sei, Zuneigung brauche und sich diese hole. Eine halbe Stunde hätten solche Umarmungen teils gedauert. Er sei nicht in der Lage gewesen, sich abzugrenzen, sagt der Mann heute. Seine Stimme bricht. In seinen Augen habe sich der Frater ein „perfides System“ aufgebaut. Er sei für ihn dagewesen. „Er wusste, wie er eine Verbindung herstellt.“
Dem mutmaßlichen Opfer fällt es schwer, über die Tat zu berichten
Weil es dem Mann sichtlich schwerfällt, über den angeklagten Vorfall zu sprechen, liest Richter Veit Teile seiner Aussage bei der Polizei vor: Als er in der Jugendfeuerwehr zum Feuerwehrmann befördert worden sei, habe der Frater mit ihm schlafen wollen. Er sei auf die Toilette geflüchtet, doch der Frater sei nachgekommen, habe ihn festgehalten, sich mit entblößtem Unterleib an ihm gerieben und ihn verbal bedrängt. Sein „Hundeblick“ sei ihm noch gut in Erinnerung, sagte der junge Mann aus.
Er habe sich nur dank einer erfundenen Freundin der Situation entziehen können. Insgesamt sei er rund eineinhalb Stunden bei dem Frater gewesen. „Ich hab mich um Kopf und Kragen geredet.“ Er sei froh, dass es nicht zum Verkehr gekommen sei. Und dennoch belasten ihn die Vorfälle bis heute, wie er sagt: Er könne nur in Teilzeit arbeiten und beschäftige sich mit dem Thema Traumatisierung. Die Entschuldigung des Ex-Fraters, der die Tat bereits gestanden hat, nimmt er leicht nickend und mit einem leisen „Okay“ zur Kenntnis.
Den letzten Zeugen hatte der Ex-Frater offenbar selbst eingeladen
Es ist bereits Nachmittag, als der letzte Zeuge aufgerufen wird. Am Vormittag saß er noch als Zuhörer im Sitzungssaal – was ungewöhnlich ist. Der 34-Jährige war fünf Jahre Schüler im Internat und habe „nie was mitbekommen“ von den Sexualdelikten, auch keine Gerüchte, wie er sagt. Der Frater sei ein Vorbild für ihn gewesen, das er bewundert habe, erklärte er. Außergewöhnliches auf Silum habe er nicht bemerkt. Wie er denn auf den Prozess gekommen sei, fragt ihn Richter Veit. „Ich bin eingeladen worden“, antwortet der Mann. Die Verteidiger des Angeklagten blicken sich ratlos an und um. „Vom Frater“, sagt der 34-Jährige und erntet ungläubiges Lachen aus dem Zuhörerraum.
Der Prozess wird im Dezember fortgesetzt. Dann sollen auch Vertreter des Ordens und eine Gutachterin zu Wort kommen.