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Mindelheim: Missbrauch am Maristeninternat: Vorfälle, die lange Schatten werfen

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Missbrauch am Maristeninternat: Vorfälle, die lange Schatten werfen

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    Am ehemaligen Maristeninternat in Mindelheim hat ein Frater Schüler sexuell missbraucht.
    Am ehemaligen Maristeninternat in Mindelheim hat ein Frater Schüler sexuell missbraucht. Foto: Stoll (Archivbild)

    Ein Frater des ehemaligen Mindelheimer Maristeninternats steht in diesem Jahr zum dritten Mal wegen sexuellen Missbrauchs vor Gericht, andere Fälle sind ebenfalls bekannt, jedoch verjährt. Viele Menschen fragen sich: Wie kann es sein, dass über Jahre niemand etwas von den Taten des Ordensmannes mitbekommen hat? Christian Fröhler ist einer, der den Frater hautnah erlebt hat – näher, als es ihm lieb gewesen ist.

    Der heute 49-Jährige hatte diese Vorfälle lange verdrängt. Als 2010 die Missbrauchsvorwürfe aufkamen, schrieb er seine Geschichte auf, und meldete sich nun, nach den Berichten über den aktuellen Fall, bei unserer Redaktion. Seine Erfahrungen hat Fröhler auch auf dem Online-Portal „Geschichten, die zählen“ der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs geteilt. Fröhler, der aus dem Münchner Westen kommt und auch heute dort lebt, erinnert sich an seine Zeit am Maristeninternat in Mindelheim, er schildert eine „Vertrauensprüfung“ des Fraters und sagt, was in seinen Augen anders hätte laufen müssen.

    Das Mindelheimer Maristeninternat hat Christian Fröhler auch gut getan

    Christian Fröhler kam Mitte der 80er Jahre als Schulverweigerer nach Mindelheim, und sagt heute, dass das Internat und seine feste Struktur ihm in dieser Zeit sehr gutgetan haben. Der Frater wurde schnell zu einer Vertrauensperson. Ihm und anderen habe er gesagt: „Ihr seid besondere Jugendliche.“ Wie die anderen sei auch er für solche Worte sehr empfänglich gewesen, sagt Fröhler, weil sie sein angeknackstes Selbstwertgefühl gesteigert hätten. „Er hatte seine Lieblinge und ich war Teil von diesem Harem.“ Der Frater habe das Vertrauen immer weiter aufgebaut und getestet, wie weit er bei ihm gehen könne. „Ich glaube, dass er außerordentlich rational vorgegangen ist und kalt.“

    Abends, nach dem Schlafengehen, habe der Erzieher immer wieder einzelne Schüler in sein Zimmer gerufen. In Gesprächen ging es um die persönliche Entwicklung und religiöse Themen. „Der Schüler trug einen Schlafanzug, der Erzieher die Ordenstracht, den Talar“, erinnert sich Fröhler. Ein Ritual, das es bei diesen Gesprächen offenbar immer wieder gab, war die Fußwaschung.

    Der ehemalige Internatsschüler berichtet von einer "Vertrauensprüfung"

    Der Frater habe die Füße des Schülers gewaschen und dies als Akt der Demut und des Dienens erklärt. „Einmal führte er an mir eine sogenannte Vertrauensprüfung durch“, erinnert sich Fröhler. Er selbst habe sich vor den Frater stellen müssen, der vor ihm auf die Knie gegangen sei und begonnen habe, ihm langsam die Schlafanzughose herunterzuziehen. Vorher habe der Frater ihm erklärt, dass er jederzeit „Stopp“ sagen könne – was Fröhler dann auch tat, bevor sein Geschlechtsteil zum Vorschein kam. Der Frater hörte auf. Doch was passiert war, konnte der Schüler nicht vergessen.

    „Der subtile Druck in dieser Situation war: Je mehr Vertrauen ich zu ihm hätte, umso weiter würde ich zulassen, dass er die Schlafanzughose herunterzieht“, sagt Fröhler heute. Der Schüler wusste: Er durfte den Frater zwar stoppen, doch das wäre dann zugleich auch ein Vertrauensbruch.

    Unangenehme Erinnerung an eine Wochenendfahrt mit dem Frater

    Eine besonders unangenehme Situation ist Christian Fröhler ebenfalls in Erinnerung geblieben. Er war mit dem Frater und anderen Jugendlichen auf einer Wochenendfahrt. Weil mehr Jugendliche als sonst dabei waren, wurde in einem der Schlafräume ein Zusatzbett für zwei Personen aufgestellt, auf dem er geschlafen habe, neben ihm der Frater. „Nachts begann er mich unter dem Schlafanzug zu berühren, zunächst an der Brust, dann immer weiter herunter“, erinnert sich Fröhler. Ihm sei die Situation „schrecklich unangenehm“ gewesen, zudem habe er Angst davor gehabt, dass einer der anderen Jugendlichen etwas davon mitbekäme. „Als seine Hand meinen Bauch erreichte, begann ich stark zu zittern. Daraufhin ließ er von mir ab.“

    Tags darauf habe ihn ein anderer Jugendlicher angesprochen, er habe etwas in der Art gesagt von: „Bei Euch ging’s ja ganz schön rund letzte Nacht.“ Christian Fröhler war so verstört, dass er das gesamte Wochenende kein Wort mehr herausgebracht habe, berichtet er. Als „außerordentlich eitel“ beschreibt Fröhler den Frater, „wie berauscht von sich selbst“. Der Geistliche habe ein unglaublich starkes Auftreten gehabt, präsent und vertrauenswürdig sei er gewesen, der Hoffnungsträger des Ordens, den bereits damals Nachwuchssorgen plagten. Der Frater habe mit seiner Art mitunter Gutes bewirkt – deshalb ist das Ganze auch für Fröhler ein zweischneidiges Schwert: „Er hat ja auch mich aus dem Loch rausgeholt.“

    Der Frater habe gemeinsam mit den Jugendlichen geduscht, erinnert sich Christian Fröhler

    Dass der Frater bei Arbeitsexerzitien regelmäßig mit den Jugendlichen geduscht habe, kam Christian Fröhler schon damals seltsam vor, wie er sagt. „Er forderte die Gruppe in einer Ansprache auf, nicht einzeln zu duschen, sondern die Kabine mit mehreren Jugendlichen zu teilen. Er sagte auch, dass eine Erektion eine ganz natürliche Sache sei und dass man sich nicht weiter darum kümmern solle.“ Auch über Homosexualität sprach der Frater häufig, erinnert sich Fröhler. „Nach seiner Lehre ist die Mehrzahl der Menschen homosexuell oder bisexuell veranlagt. Das bedeutete für mich: Auch sexuelle Handlungen und Andeutungen des Erziehers mir gegenüber seien völlig normal und anerkannt. Fühlte ich mich dabei nicht wohl, dann war das allein meine Schuld.“

    Erst Jahrzehnte später habe er verstanden, was da passiert sei, sagt Fröhler. Bis heute plagen ihn Schuldgefühle: Hätte er früher etwas sagen müssen? Hätte er so verhindern können, dass der Frater in den 17 Jahren, die er noch am Maristeninternat verbrachte, sich an weiteren Buben vergriff? „Man macht sich zum Komplizen“, sagt Fröhler, obwohl er auch weiß: „Ich hatte das komplett verdrängt, betatscht worden zu sein.“ Dass andere Erzieher im Internat nichts von den Taten des Fraters mitbekommen haben wollen, „glaube ich keine fünf Minuten“, sagt Fröhler heute. Er geht davon aus, dass er nicht der Einzige war, dem sich der Frater angenähert hat. Ein Freund habe ihm ebenfalls von der Vertrauensprüfung erzählt – er habe allerdings schon von Beginn an „Stopp“ gesagt.

    Christian Fröhler hat sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt. Opfer von sexuellen Übergriffen zu sein, bewirke häufig starke Schuldgefühle und Orientierungslosigkeit, insbesondere wenn sie in einer Atmosphäre der Angst und der Abhängigkeit stattfinden, weiß er. „Erst heute, selbst Familienvater, materiell und psychisch stabil, bin ich in der Lage, die Ereignisse einzuordnen und zu bewerten.“

    Der 49-Jährige sagt: "Der Täter ist mir gleichgültig."

    Für Fröhler ist die Aufarbeitung der Vorfälle am Maristeninternat abgeschlossen. „Ich erwarte nichts. Der Täter ist mir gleichgültig.“ Er hofft allerdings, dass durch die öffentliche Diskussion der Saatboden für ähnliche sexuelle Übergriffe in Klosterschulen und anderen Organisationen ausgetrocknet werde.

    Bis heute hat er einen Google-Suchauftrag zu den Maristen und mit dem Namen des Fraters. „Er soll nie wieder in Kontakt mit Kindern und Jugendlichen kommen“, sagt Fröhler. Öffentlichkeit ist in seinen Augen der Feind für solche Taten. Deshalb sei es auch so wichtig, hinzuschauen und darüber zu reden. „Vielleicht ist es das, wozu ich einen Beitrag leisten kann.“

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