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Mindelheim: Mindelheimer erinnert sich an Militärputsch in Chile 1973: Plötzlich fielen Bomben

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Mindelheimer erinnert sich an Militärputsch in Chile 1973: Plötzlich fielen Bomben

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    Beim Militärputsch am 11. September 1973 brannte in Santiago de Chile der Maneda-Palast. General Pinochet stürzte damals den gewählten Präsidenten Allende.
    Beim Militärputsch am 11. September 1973 brannte in Santiago de Chile der Maneda-Palast. General Pinochet stürzte damals den gewählten Präsidenten Allende. Foto: Johann Stoll

    Wie unter einem Brennglas verdichten sich an gewissen Tagen Ereignisse von weltgeschichtlicher Bedeutung. Der 9. November war für die deutsche Geschichte eine solch markante Wegmarke: 1923 putschte Hitler, 1938 brannten Synagogen, 1989 fiel die Berliner Mauer. Auch der 11. September hat sich ins Gedächtnis eingebrannt: 2001 stürzten die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York nach einem bis dahin beispiellosen Terroranschlag mit tausenden von Toten in sich zusammen. 1973 kam am 11. September bei einem Militärputsch in Chile auch Präsident Salvador Allende ums Leben. Am Ende waren bis zu 50.000 Menschen ums Leben gekommen. Der heute in Mindelheim lebende Carlos Agurto-Tapia hat die dramatischen Ereignisse von 1973 hautnah im Präsidentenpalast von Santiago miterlebt.

    An diesem Tag hatte er eigentlich ein Interview mit einem berühmten Sänger

    Carlos Agurto-Tapia arbeitete damals als junger Reporter eines Radiosenders. Mit dem berühmten Volkssänger Victor Jara hatte er an diesem Schicksalstag 11. September 1973 einen Interviewtermin im Regierungspalast La Moneda vereinbart. Dazu sollte es nicht mehr kommen. Plötzlich waren Panzer durch die Straßen gerollt. Von der Luft aus bombardierten die Militärs Häuser. Polizisten drückten dem Reporter vorübergehend eine Maschinenpistole deutscher Bauart in die Hand, auf dass er sich verteidigen könne. Als dann der Polizeipräsident die Front wechselte und sich General Pinochet anschloss, wurde Agurto die Waffe wieder abgenommen.

    Er durfte den Präsident Chiles zuvor auf einer Reise begleiten

    Der junge Radiomann hatte Allende kurz zuvor auf einer Weltreise begleiten dürfen, die von Amerika über Afrika bis in die Sowjetunion geführt hatte. Diese Nähe schaffte Vertrauen, und so kam es, dass Agurto-Tapia die letzte Rede des charismatischen Allende im Radio Magellanes übertragen konnte. Alle anderen Rundfunkhäuser waren bereits so beschädigt, dass sie nicht mehr senden konnten.

    Gegen 14 Uhr begann die Armee mit der Erstürmung des Präsidentenpalastes. Allende erklärte die Kapitulation und nahm sich kurz danach das Leben.

    Nur durch Glück überlebte er die "Hölle" in Chile

    Agurto-Tapia wurde verhaftet und mit tausenden anderen in ein Fußballstadion verschleppt. Dort kam es zu Erschießungen und Folterungen. Nur ganz wenige waren dieser Hölle entkommen, darunter auch der junge Reporter. Geschafft hatte er es mit einem Trick. Einen Offizier sprach er direkt mit dessen Namen an und behauptete, ihn von früher zu kennen. Den Namen des Mannes hatte er von einem einfachen Soldaten aufgeschnappt. Der wiederum durchschaute zwar das Spiel, ließ den jungen Reporter aber laufen, weil er fürchtete, wegen des Namens selbst zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sein Glück blieb Carlos hold. Militärs durchkämmten Santiago auf der Suche nach Anhängern von Allende. Agurto-Tapia war inzwischen bei einer alten Dame untergeschlüpft. Bei der Kontrolle sagte sie in resolutem Ton, das sei ihr Neffe. Die Soldaten glaubten die Geschichte.

    Ein paar Tage später wurde Arturo dann doch wieder verhaftet. Wieder ging es ins Stadion, und wieder musste er fürchten, vor einem Erschießungskommando zu enden. Aber auch hier gelang es ihm im allgemeinen Chaos, zu entkommen. Heute sagt Agurto-Tapia mit feinem Humor: „Ich lebe seither gratis.“

    Wie dramatisch die Lage war, zeigte sich kurze Zeit später. Der Sänger Victor Jara, mit dem Agurto sprechen wollte, lag erschossen neben einem Friedhof. Die nächsten Monate lebte Agurto versteckt im Untergrund. Seine Wohnung war auf den Kopf gestellt worden, auch die der Familie. Arturo galt als einer der „amigos personales“, also als persönlicher Freund Allendes. Im Februar 1974 endlich konnte er Chile verlassen. Der finnische Botschafter hatte Kontakte in die DDR hergestellt. Ost-Berlin nahm daraufhin einige Verfolgte auf.

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    Mit der Kenntnis von genau drei Worten auf Deutsch landete Arturo in Dessau: „Achtung, verboten, Sauerkraut“. Seine Frau und seine zwei Kinder musste er zurücklassen. Als Übersetzer, als Lektor und in der Produktion in einem Maschinenbaukombinat schlug sich Agurto die nächsten Jahre durch. Er lebte in Dresden, Teltow und Ost-Berlin. Auch für den Rundfunk konnte er wieder arbeiten, und zwar für die Lateinamerika-Redaktion von Radio Berlin International.

    Kurzer Aufenthalt in Chile, dann in Kammlach gelandet

    Als Pinochet 1982 ein Amnestiegesetz verkündete, kehrte Arturo vorübergehend wieder nach Chile zurück. Dort arbeitete er wieder für den Rundfunk – und eckte wieder an. Weil er es wagte, in einer Sendung an Allende zu erinnern, musste er sein Land wieder verlassen. Diesmal ging es nach Westdeutschland, genauer nach Kammlach, weil dort Verwandte lebten.

    Agurto dachte, der Staub werde sich nach zwei, drei Jahren wieder legen und er könne zurück in sein Heimatland und beim Radio weitermachen. Letztlich blieb er aber im Unterallgäu, nicht zuletzt auch, weil er mit der Mentalität der Leute gut zurechtkam. Bis zu seinem Ruhestand arbeitete er als Schweißer und Techniker. Heute lebt der 73-Jährige in Mindelheim und unterrichtet noch an der Volkshochschule Spanisch. 

    Dieser Artikel ist 2020 erschienen und wurde angesichts des Jahrestags des Militärputschs von Chile im September 2023 aktualisiert.

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