Zu Beginn des vierten Verhandlungstags im Missbrauchsprozess gegen den einstigen Leiter des Mindelheimer Maristeninternats fasst Richter Dr. Markus Veit den Stand der Dinge zusammen: Zwei Anklagepunkte – sexuellen Missbrauch und sexuelle Nötigung – habe der Angeklagte bereits gestanden, zu den schwersten Vorwürfen der Vergewaltigungen äußere er sich nicht. Diese Sache gelte es nun aufzuklären, sagt Veit, der noch einmal betont: „Die katholische Kirche sitzt nicht auf der Anklagebank.“ Und doch geht es auch an diesem Tag immer wieder um die Frage, wer im Internat und im Orden von möglichen Taten gewusst haben könnte und wie die Kirche reagiert – bis heute.
Als erste Zeugin sagt eine ehemalige Erzieherin aus, die von 2002 bis 2010 am Internat gearbeitet hat. Sie lernte damals auch den etwa 16-jährigen Jungen kennen, der heute die Vergewaltigungsvorwürfe gegen den Ex-Frater erhebt. Der Teenager sei vom Dachkloster in ihre Abteilung gekommen, er sei introvertiert und lieber für sich gewesen. Einmal habe sie einen Ausraster erlebt, an dessen Ende er weinend zusammengebrochen sei.
Die Frau berichtet aus ihrem Alltag als Erzieherin und von Situationen, die sie heute mit Missbrauch in Zusammenhang bringt. So habe der Frater immer wieder am Abend Schüler zu sich ins Zimmer holen lassen. „Es waren immer dieselben“, sagt die Frau und zählt eine Reihe von Namen auf, darunter auch den des mutmaßlichen Opfers. Und sie nennt weitere Schüler, bei denen es zu Übergriffen gekommen sein soll oder bei denen sie es vermutet, weil sich deren Verhalten verändert habe.
Die Erzieherin erinnert sich an einen Übergriff des Fraters
Sie schildert eine Situation, die sie schon damals als übergriffig empfunden habe. Ein Schüler habe „Koks“ aus Kreide verkauft und sei deshalb zum Frater gerufen worden. „Lass die Hosen runter!“, habe der Mann den Jugendlichen mehrfach aufgefordert. Als dieser seine Hose heruntergelassen habe, habe der Frater gefordert, dass er auch seine Unterhose ausziehen solle. Sie habe dann eingegriffen.
Schüler hätten ihr von „Härte-Wochenenden“ auf die Hütte der Maristen in Silum erzählt, die der Frater mit einigen Jugendlichen unternommen habe: Sie sollten dort im Schnee nacktbaden oder sich die Genitalien damit einreiben. Auch Alkohol habe es dort gegeben, „Bier war ganz normal“, und eine große Maggi-Flasche sei mit Klosterschnaps gefüllt gewesen. Davon hätten die 14- und 15-Jährigen trinken dürfen.
Der Frater selbst habe zu Beginn jeder Teambesprechung gesagt, dass seine Gegner über ihn behaupten würden, dass er pädophil sei, schildert die Frau. Als später die Missbrauchsvorwürfe bekannt, aber noch nicht offiziell waren, habe der Orden das Team zu Stillschweigen verpflichtet.
Ein Frater der Maristen tritt als nächster Zeuge auf: Er hat durch seine Arbeit in Mindelheim viel erlebt und andererseits heute als Teil des Provinzialrats Einblick in die Entscheidungen des Ordens, etwa den Ausschluss des Angeklagten.
Der Frater leugnete seinem Mitbruder gegenüber die Vergewaltigung
Er selbst habe damals von Übergriffen nichts mitbekommen, so der Zeuge. Es habe aber Situationen mit „zotigen“, anzüglichen Aussagen des Angeklagten gegeben, die ihm missfallen hätten. Der beschuldigte Frater habe zu ihm gesagt, dass mit dem mutmaßlichen Vergewaltigungsopfer „nie was gewesen ist“, schildert er. Auch gegenüber der Missbrauchsbeauftragten des Ordens hatte der Ex-Frater offenbar die Tat geleugnet, die ihm vorgeworfen wurde.
Der Zeuge sagt, er habe den Angeklagten gebeten, ihm eine Anzahl an Übergriffen oder Namensliste von Opfern zu nennen, doch er habe er nichts zurückbekommen. In einem Gespräch habe der Angeklagte zu ihm gesagt: „Ich möchte einen Schlussstrich ziehen und rehabilitiert werden.“ Daraufhin habe er geantwortet: „Es gibt keinen Schlussstrich zu ziehen, weil auch Betroffene keinen Schlussstrich ziehen können.“
Anwalt Dr. Detlef Kröger, der das mutmaßliche Vergewaltigungsopfer als Nebenkläger vertritt, befragt den Zeugen über den Umgang des Ordens mit den Vorwürfen. Der sagt, es sei ein „großer Fehler“ gewesen, dass damals weder Schüler, Eltern, Lehrer noch Mitbrüder über den wahren Grund des Weggangs des Fraters informiert worden seien. Thema ist auch der Verhaltenskodex, der dem Angeklagten im Rahmen des zweiten Missbrauchsurteils 2011 auferlegt worden war: Die Maristen wollten ein Auge auf den Mann haben. Er habe sich abmelden müssen, durfte keinen Kontakt zu Kindern und Jugendlichen haben.
Der Verhaltenskodex nach dem Missbrauchsurteil gilt nun nicht mehr
Mit der Entlassung des Angeklagten aus dem Orden gilt der Kodex nicht mehr. Die Nachricht vom Ausschluss habe der Zeuge dem Angeklagten stellvertretend für den Provinzial überbracht: Der Ex-Frater habe daraufhin gesagt, dass er Marist sei und Marist bleibe.
Der Zeuge bestätigt, dass der Orden dem Angeklagten nun eine Wohnung zur Verfügung gestellt hat – um die Allgemeinheit nicht zu belasten, die ansonsten für den arbeitslosen Ex-Frater aufkommen müsste, wie er später erklärt. „Das ist ein ganz wunder Punkt, wo ich sehr mit mir ringe, aber den goldenen Weg gibt’s nicht“, sagt der Zeuge. Einerseits sehe man die Verantwortung des Ordens, auf der anderen Seite stehe die Frage, wie weit der Orden ein Mitglied halten wolle oder könne, das solchen Vorwürfen ausgesetzt sei.
Zuletzt kommen drei Männer um die 50 zu Wort, die Ende der Achtziger Jahre das Internat besucht haben. Sie beschreiben den Frater als charismatisches Idol und Hoffnungsträger, aber sprechen auch über abendliche Treffen in seinem Zimmer, die, so einer der Männer, aus heutiger Sicht nicht der Förderung der Jugendlichen gedient hätten, sondern dafür, sie für Missbrauchstaten auszuwählen. Die Erzieherin hatte zuvor ebenfalls von einem „Beuteschema“ an Jungen gesprochen, die etwas Schlimmes erlebt oder zuhause keinen Rückhalt hatten.
Ehemalige Schüler des Maristeninternats berichten von Übergriffen
Die Ehemaligen berichten von Vertrauensprüfungen wie dem Herunterziehen der Hose, bis man „Stopp“ sage, oder der Aufforderung, sich für eine Mark auszuziehen. Ein heute 49-Jähriger beschreibt eine Situation, die er als Jugendlicher erlebt habe: Er sei einmal in sein Einzelzimmer gekommen, als der Frater nackt auf seinem Bett gelegen sei und etwas von „Brüderlichkeit“ gesprochen habe. Dass im Internat keiner etwas von den Vorfällen mitbekommen haben will, bezweifelt er.
Mitte Januar sollen weitere Zeugen gehört werden. Zudem stehen noch Einschätzungen über das mutmaßliche Vergewaltigungsopfer und seine Glaubwürdigkeit aus.