Sie sind alle vier ehemalige Maristeninternatsschüler und hatten jeweils ihre eigenen Erlebnisse mit dem Ex-Frater, gegen den zum dritten Mal ein Missbrauchsprozess läuft. Wie würden Sie sich selbst nennen: Opfer, Betroffene, Überlebende?
CHRISTIAN FRÖHLER: Eigentlich passt keins so richtig. Heute bin ich kein Opfer mehr.
MICHAEL ZEIDLER: Wir haben es erlebt und erleben es immer noch durch die Schilderung von anderen, die sich bei uns gemeldet haben.
ANDREAS ERNSTBERGER: Wir hätten uns eine Art Task-Force gewünscht, die das Missbrauchsthema aufbereitet. Weil es die nicht gibt, sind wir unsere eigenen Aufarbeitungsbeauftragten.
MARCUS ERDMANN: Und wir stellen gleichzeitig einen geschützten Rahmen dar, wo sich andere melden und sich austauschen können.
Wie kam es, dass Sie sich zusammengeschlossen haben?
ERNSTBERGER: Das war eigentlich gar nicht beabsichtigt. Aber als Christian Fröhler seine Geschichte geteilt hat, wollte ich ihn unterstützen.
ZEIDLER: Wenn wir es jetzt nicht machen, ist es mit der Aufarbeitung vorbei.
Sie haben den Prozess am Amtsgericht begleitet. Was hat er bei Ihnen ausgelöst?
ERNSTBERGER: Ich war schockiert, welche Stimmung dort herrschte. Ich empfand es als unwürdig und verletzend, dass es da teils so flapsig zuging
FRÖHLER: Ein juristischer Prozess kann dem, was passiert ist, nicht gerecht werden. Ein Gericht sucht nach dem Schuldigen, das ist seine Aufgabe. In Wirklichkeit geht es um etwas ganz anderes: um eine Organisation, die ihrer Verantwortung nicht gerecht wird. In der Hinsicht sehe ich mich bis heute als Opfer. Es macht mich unglaublich wütend, weil es nicht gelingt, den Maristenorden und die katholische Kirche dazu zu zwingen, die Fakten auf den Tisch zu legen und eine unabhängige Aufklärung zu betreiben.
ERDMANN: Dafür müssten sie Verantwortung übernehmen. Der Prozess hat gezeigt, dass sie nicht dazu bereit sind.
FRÖHLER: Ja, das kann man ganz konkret an den Kontaktpersonen der Maristen für Missbrauchsopfer festmachen.
Sie meinen Frater Michael Schmalzl, die ehemalige Lehrerin Nancy Camilleri sowie Rechtsanwalt Nikolaus Fackler?
FRÖHLER: Dass der Rechtsanwalt der Verteidiger des Ex-Fraters war und nun Ansprechpartner für Betroffene ist, ist für mich absolut untragbar. 2000 wurden in einem Bericht über eine Lehrerfortbildung zu Kindesmissbrauch am Maristenkolleg Nancy Camilleri und Frater Michael genannt. Auch danach haben sie nicht gesehen, was vor ihrer Nasenspitze passiert ist. Dadurch haben sie sich als Ansprechpartner komplett disqualifiziert. In der Fortbildung ging es auch darum, dass Kinder lernen sollen, nein zu sagen. Wir vier können das bestätigen: Es geht nicht! Man kann sich als Kind nicht gegenüber einem übergriffigen Verhalten einer Vertrauensperson wehren. Wer da gefragt ist, ist das soziale Umfeld.
Hat es jemals eine Erklärung vonseiten des Ordens oder Ordensvertretern gegeben?
(ALLE SCHÜTTELN DEN KOPF) FRÖHLER: Die Maristen kennen weitere Betroffene, es war die Rede von einer Liste mit 20 Personen. Das wäre etwas, wo der Orden seinen guten Willen zeigen könnte, wenn er die mal kontaktiert.
ERDMANN: Es spricht ja auch Bände, dass der Orden die Liste nicht an die Staatsanwaltschaft übergibt.
Von wie vielen Betroffenen gehen Sie aus?
ZEIDLER: Dreistellig. Davon bin ich fest überzeugt.
ERDMANN: Wenn man unseren Jahrgang anschaut, gibt es ein paar, bei denen ich davon ausgehe, dass sie noch die Zielgruppe waren, mindestens zehn.
ERNSTBERGER: Vor allen Dingen hat er bei uns erst angefangen ... und dann rund 20 Jahre. Es ist absurd: Man schickt die Kinder dorthin, damit sie besser aufgehoben sind. Und dann kommt plötzlich so etwas. Die Maristen werden ihrer eigenen Mission nicht gerecht. Das ist wie eine Feuerwehr, die kein Feuer löschen kann.
FRÖHLER: Mich erinnert das Ganze an einen Flächenbrand. Wir sprechen jetzt über das Maristenkolleg in Mindelheim. Eine Schule und eine dreistellige Fallzahl, die wir vermuten. Die Fälle allein in Deutschland sind zahlreich. Das, was uns passiert ist, ist überall passiert und passiert wahrscheinlich immer noch, weil die Täter sich denken: Uns kann keiner was. Und vielen kann auch keiner was. Was die katholische Kirche sehr geschickt macht, ist ja, belastende Dokumente zum Beispiel nach Rom zu bringen.
ERNSTBERGER: Was würde Jesus dazu sagen?
FRÖHLER: Es gibt sicher viele anständige Leute in der katholischen Kirche und für die ist das, was da passiert ist, ein Schlag ins Gesicht.
ERNSTBERGER: Und all jenen, die sagen, der Maristen-Frater habe auch viel Gutes getan: Sorry! Wie viel Gutes muss ich denn tun, damit ich so und so viele Jungen missbrauchen darf?
Hat der ehemalige Frater sich Ihnen gegenüber geäußert?
ERNSTBERGER: Ich habe ihn im Gericht angesprochen: „Egal, welches Urteil gesprochen wird, überleg dir, wie du als Teil des Problems jetzt Teil der Lösung wirst, das erwarte ich von dir.“ Er könnte zum Beispiel sagen: „Ich nenne Namen, verzichte auf Verjährungen, stehe für vollständige Transparenz und Aufklärung – und wenn ich dafür ins Gefängnis gehen muss. Aber ich übernehme Verantwortung.“
Das heißt, es gab keine Entschuldigung?
ERDMANN: Nein. Der Orden hat seinen Rauswurf auch damit begründet, dass es keine Reue gab.
FRÖHLER: Er genießt jetzt nach dem Rauswurf mehr Freiheiten als nach dem zweiten Urteil, wo der Orden ihm Regeln auferlegt hat, die Teil der Bewährungsstrafe waren.
ERNSTBERGER: Aber was bedeutet denn der Ausschluss aus dem Orden? Danach bezahlt der Orden ihm die Wohnung, ist weiterhin für ihn da – welche Konsequenzen spürt er da? Warum ihn nicht wirklich fallen lassen?
ERDMANN: Mich macht es wütend, wenn ich sehe, wie weichgebettet er fällt.
Der Maristenorden argumentiert damit, dass der Allgemeinheit nicht die Kosten für den Ex-Frater auferlegt werden sollten.
ERNSTBERGER: Wie viele Kosten wurden denn der Allgemeinheit auferlegt für die Behandlung der Opfer? Da reden wir über ganz andere Beträge. Und dann das Potenzial, das ein Mensch nicht entfalten kann. Der Rauswurf ist eine symbolische Geste, dass der Orden durchgreift. Die Öffentlichkeit, die das am Rande mitbekommt, findet das super, aber schaut nicht in die Tiefe.
ZEIDLER: Zum Thema Öffentlichkeit: Wer war denn alles in dem Prozess als Zuschauer? Öffentliche Würdenträger wie ein Bürgermeister, ein Vereinsvorsitzender aus Furth, eine Art Fanclub des Angeklagten von Leuten, die in diesem Moment eigentlich Abstand halten sollten zu ihm, um zumindest nach außen hin etwas Neutralität zu wahren … Diese Verbandelung macht mich nachdenklich.
Haben Sie sich selbst einmal an die Missbrauchsbeauftragten gewandt?
ZEIDLER: Nein, da ist kein Vertrauen da. Die jetzigen Ansprechpartner sind weit davon entfernt, neutral und unabhängig zu sein.
FRÖHLER: Ich hatte es 2010 überlegt. Aber der damalige Ansprechpartner war auch aus diesem Maristen-Dunstkreis.
ERNSTBERGER: Alle Ansprechpartner sind Teil des Systems. Eigentlich muss die Erstmeldung an eine unabhängige Stelle erfolgen. Letztlich müsste für jede Einrichtung, wo ein asymmetrisches Machtverhältnis besteht, eine Pflicht bestehen, einen jährlichen Report abzuliefern, welche Vorwürfe vorgebracht wurden, nicht unbedingt inhaltlich, aber vor allem in der Zahl. Die Politik muss eine Transparenz einfordern.
FRÖHLER: Das kann man noch weiter fassen. Es geht darum, eine Sprache zu finden, um über sexuellen Kindesmissbrauch zu sprechen. Wir haben alle Jahrzehnte dafür gebraucht. 20 Jahre lang war das in mir drin und hat mich belastet. Es ist so befreiend, zu sagen, was passiert ist. Das ist wichtig für den Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft. Die Frage muss erlaubt sein: Was macht ihr, um sexuellem Missbrauch vorzubeugen? Ich möchte jedem diese Frage stellen können. Im Augenblick fühlt sich die andere Seite dadurch gleich angegriffen.
Was am Umfeld des Maristeninternats führte dazu, dass die Taten geschehen konnten?
ERNSTBERGER: Eine große Rolle spielte die Einrichtung, die den Frater in diese Position gebracht hat, das Thema aber nicht ernstgenommen hat.
ERDMANN: Er hat es geschafft, grenzenlose Freiheit zu genießen.
ZEIDLER: Auf ihm ruhten die Hoffnungen des überalterten Ordens, weil er frischen Wind reingebracht hat. Dadurch hat er sich eine gewisse Macht aufgebaut, ein Zurück gab’s dann nicht mehr.
FRÖHLER: Dass das Internat ein günstiger Nährboden war, zeigen ja auch der Fall eines ehemaligen Pfarrers, der sexuellen Missbrauch zugegeben hat, und eines weltlichen Erziehers mit offenbar zehn bis 15 bekannten Opfern. Das ist eine Gemengelage, die den sexuellen Missbrauch begünstigt hat.
Gab es in Ihren Augen Mitwisser?
FRÖHLER: Viele haben nicht hingeschaut, man wollte es nicht wissen, warum der Hoffnungsträger Buben im Schlafanzug aufs Zimmer holt.
ZEIDLER: Es muss zumindest geahnt worden sein, viele Mitbrüder und weltliches Personal wollten sich aber wegen der Macht des Internatsleiters nicht auf den Konflikt einlassen.
Immer wieder hört man Sätze wie „Das ist ja schon so lange her, warum soll man sich jetzt überhaupt noch damit beschäftigen“. Was sagen Sie dazu?
ZEIDLER: Das ist so aktuell wie damals. Vielleicht habe ich erst 50 Jahre alt werden müssen, damit ich anfange, meine Geschichte zu erzählen. Jetzt habe ich die Kraft und das Rückgrat, vorher habe ich viel verdrängt. Jetzt ist die Möglichkeit da, Öffentlichkeit und ein Bewusstsein zu schaffen: Achtet auf Signale, auf die Kinder, eure Umgebung, auf eure Familie, aber auch auf andere. Dafür gibt es keinen falschen Zeitpunkt. Das einzig Falsche wäre, es nie zu tun.
FRÖHLER: Die Zeit spielt eine ganz seltsame Rolle. Sie bleibt bei traumatischen Erlebnissen stehen. Ich habe sie 20 Jahre später aufgeschrieben. Durch unsere Gespräche und den Prozess habe ich einen anderen Blickwinkel, aber die Vergangenheit ist immer noch präsent. Bei dem einen dauert’s fünf Jahre, bei dem anderen 20 oder 40, bis es an die Oberfläche kommt, aber in dieser Zeit ist es eine Belastung und die geht weg, wenn man sich damit auseinandersetzt, und nicht, wenn man es weiter verdrängt. Die Zeit spielt keine Rolle, auch wenn es so lange her ist.
ERDMANN: Es ist eigentlich krass, wie isoliert wir damals waren, mit den gleichen Themen in der gleichen Gruppe. Der Frater hat damals seine ersten Angeln ausgestreckt, und wenn man gehört hat, was danach passiert sein soll, ist das für mich ein riesengroßes Thema: Das kann nicht verjähren!
Was wünschen Sie sich vom Orden?
FRÖHLER: Alle drei jetzigen Ansprechpartner auszutauschen.
ERDMANN: Verantwortung zu übernehmen.
ERNSTBERGER: Schonungslose Transparenz. Namen rausrücken, Flucht nach vorne, nach seinen Werten handeln. Die Archive öffnen, mithelfen bei der Aufklärung. Das ist der einzige Weg, um Glaubwürdigkeit herzustellen. Sonst ist das für mich ein Orden, der dem Untergang geweiht ist.
Was wünschen Sie sich von der Gesellschaft?
ZEIDLER: Dass man offen drüber sprechen kann, auch in Mindelheim. Da kommt das gerade gar nicht gut an.
ERDMANN: Durchs Wegschauen ist es erst möglich geworden, dass es passiert.
ERNSTBERGER: Ich glaube, es ist Scham. Wenn sie richtig hingucken würden, würden sie was tun müssen, also schauen sie lieber weg. Letztlich geht es auch darum, nicht zu sagen: Die anderen sollen es regeln. Man kann sich aufregen, aber besser wäre es, diese Energie zu nutzen. Der kleinste Schritt wäre es, zum Beispiel nachzufragen, was die eigene Schule tut, um Missbrauch zu verhindern und ob unabhängige Meldestellen kommuniziert werden. Wenn ich nicht die Zeit und Energie aufwenden kann, selbst etwas zu tun, kann ich auch zum Beispiel den Eckigen Tisch finanziell unterstützen.
Der Verein „Eckiger Tisch“ hat sich Aufklärung, Hilfe und Genugtuung auf die Fahnen geschrieben. Was sind Ihre Ziele?
FRÖHLER: Die Nebenkläger im Prozess zu unterstützen, Öffentlichkeit herzustellen und andere Betroffene zu unterstützen. Wichtig ist, dass unser Engagement keine Eintagsfliege ist.
ERDMANN: Wir wollen die Akzeptanz verändern und die Möglichkeit, über dieses Thema zu sprechen. Ende der 80er-Jahre, als wir im Internat waren, hätte man uns gar nicht zugehört.
ERNSTBERGER: Es ist eine Scham da, die einen lähmt. Man hat Angst, darüber zu sprechen, weil man stigmatisiert werden könnte.
Wie waren die Reaktionen bei Ihnen, als Sie zum ersten Mal darüber gesprochen haben?
ZEIDLER: Sehr positiv.
FRÖHLER: Bei mir auch.
ERNSTBERGER: Ich habe es in der Firma mit 900 Leuten bekanntgemacht. Dieser Mut hat sich bezahlt gemacht. Darüber zu reden, ist der viel schwerere, aber viel bessere Weg.
Wie viel Zeit investieren Sie gerade in das Thema?
FRÖHLER: Das ist unterschiedlich. Anfangs haben wir uns zwei- bis dreimal in der Woche virtuell getroffen. Jetzt haben wir wöchentlich eine Videokonferenz. Der Erstkontakt, wenn sich jemand über unsere Mailadresse wirsindviele@gmx.net meldet, ist erst in kleinerem Rahmen. Und wir haben noch eine Chatgruppe, in der wir uns austauschen. Das ist, glaube ich, eine gute Basis für eine langfristige Arbeit.
Was könnte man in Ihren Augen tun, um sexuellen Missbrauch zu verhindern oder zumindest früher zu entdecken?
FRÖHLER: Was mir große Hoffnung macht, ist, dass unsere Kindheit eine andere Zeit war. Vergewaltigung in der Ehe war legal, Homosexualität illegal. Das ist heute alles anders. Wir sind so weit gekommen. Ich glaube, dass wir weiterkommen, wenn wir über sexuellen Missbrauch in der Kirche, aber auch in Sportvereinen oder anderen Einrichtungen reden.
ZEIDLER: Ich bin für verpflichtende Präventionsprogramme für Erzieher und diejenigen, die mit Kindern zu tun haben.
ERNSTBERGER: Formate schaffen, wo es regelmäßig Thema ist. Betroffene einladen, die zum Beispiel an Schulen oder Einrichtungen darüber sprechen. Wenn mich jemand einladen würde, würde ich das machen!
Anmerkung der Redaktion: Auch der Maristenorden war zu diesem Gespräch eingeladen, hat aber abgelehnt, daran teilzunehmen. Eine Anfrage unserer Redaktion für ein Einzelinterview wurde zunächst von einem Ordensvertreter bejaht, auf konkrete Terminvorschläge hin kam keine Antwort mehr.
Zur Person
Marcus Erdmann, Andreas Ernstberger, Christian Fröhler und Michael Zeidler sind ehemalige Schüler des Maristeninternats und haben sich mit anderen Betroffenen in einer Gruppe zusammengeschlossen, die sich regelmäßig austauscht.