Im Oktober 1944 wurde nördlich des oberen Türkheimer Bahnhofs ein Konzentrationslager errichtet. Es handelte sich um ein Außenlager des KZ Dachau, das die Bezeichnung „Kaufering VI“ trug. Man schätzt, dass hier 1000 bis 2500, vorwiegend Juden, untergebracht waren. Vor allem ein Blick in die mit unermüdlichem Engagement zusammengetragenen Veröffentlichungen von Chronist Alois Epple gibt Aufschluss über die Hintergründe und traurigen Geschehnisse vor Ort.
1932 war in Deutschland mit rund sechs Millionen registrierten Arbeitslosen der Höhepunkt der Wirtschaftskrise erreicht. Hinzu kam eine auf mehr als eine Million geschätzte Anzahl an Unerfassten, die auf den Landstraßen umherzogen und sich mit Betteln und allen erdenkbaren Handelschaften über Wasser hielten. Auch für den Markt Türkheim bildeten sie eine erhebliche Belastung, da diese Herbergs- und Verpflegungsstationen einrichten und unterhalten mussten. Die wirtschaftliche Lage wurde immer kritischer, was das Aufkommen der NSDAP mit ihren Versprechungen unter dem Schlagwort „Arbeit und Brot“ besonders begünstigte. Nach der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 vollzog sich auch in Türkheim der politische Umschwung.

Die Sorge, Arbeitsplatz, Stellung und Aufträge zu verlieren, veranlasste viele zu einem Beitritt zur Partei und ihren Organisationen. „Reine politische Überzeugung war bei wenigen der Anlass“, ist in der von Hans Ruf verfassten und von Alois Epple herausgegebenen Chronik „Türkheim in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ zu lesen. Die Bevölkerung wurde systematisch durch sogenannte Schutzhaftnahmen eingeschüchtert und kritische Stimmen mundtot gemacht. Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg mit dem von Adolf Hitler befohlenen Überfall auf Polen, auch eine im Markt Türkheim liegende Wehrmachtseinheit wurde sofort abgerufen. Der Krieg nahm seinen furchtbaren Lauf und kostete 107 Türkheimer das Leben, 99 bleiben vermisst.
Das Buch „KZ Türkheim“ von Alois Epple gibt Aufschluss
Zwischen 1933 und 1945 wurden vom nationalsozialistischen Regime und seinen Verbündeten unzählige Konzentrationslager und andere Inhaftierungsstätten errichtet, in die politisch andersdenkende, vermeintliche Staatsfeinde und „nichtarische“ Menschen wie Juden, Sinti und Roma zur Zwangsarbeit oder Tötung verschleppt wurden. Doch wie kam es dazu, dass ein gutes halbes Jahr vor Kriegsende ein Konzentrationslager bei Türkheim entstand? Das Buch „KZ Türkheim“ von Alois Epple gibt Aufschluss. Da in der zweiten Kriegshälfte der Bombardierung Deutschlands durch die Engländer und Amerikaner nur mit Flugzeugen zu begegnen war, welche die feindlichen Geschwader in der Luft abfangen, sollten neue unterirdische Flugzeugproduktionsstätten entstehen. Geologisch waren hier besonders die mächtigen Schotter rund um Kaufering geeignet. Bauplanung, Bauorganisation und Bauausführung lag bei der Organisation Todt (OT). Zum zügigen Bau der sogenannten „Jägerbauten“ wurden neben knappen deutschen Arbeitskräften ausländische Zwangsarbeiter und jüdische KZ-Häftlinge herangezogen. Zu ihrer Unterbringung wurden als Außenkommandos des KZ Dachau rund um Kaufering elf Lager angelegt.

Das Konzentrationslager Türkheim war eines hiervon und wurde als „Kaufering VI“ geführt. Die jüdischen Häftlinge unterstanden der SS, die für Unterbringung und Ernährung zuständig war und die Menschen an die OT und die Baufirmen gegen eine Entschädigung „verlieh“. Die Lage des Türkheimer Bahnhofs schien für das Vorhaben ideal, im Oktober 1944 ging es los. „Die Bauarbeiten wurden von bald danach ankommenden holländischen Zwangsarbeitern ausgeführt. Die Grundbesitzer wurden weder verständigt noch gefragt.“, schreibt Hans Ruf in seiner Chronik, „in wenigen Wochen entstanden nun nördlich des obereren Bahnhofes ein Dutzend Erdunterkünfte.“ In anderen Veröffentlichungen steht zudem geschrieben, dass auch Mindelheimer Oberschüler, Häftlinge des KZ Dachau, Arbeitskräfte der OT und möglicherweise auch Kriegsgefangene zum Bau herangezogen wurden.
Lange wusste die Türkheimer Bevölkerung nichts vom Zweck des Konzentrationslagers
Lange wusste die Bevölkerung nicht, zu welchem Zweck das Lager angelegt wird, die Gerüchteküche sprach von der geplanten Errichtung einer Munitionsfabrik. Erst als die Anlage mit einem hohen Stacheldrahtzaun umgeben und an den vier Ecken Wachtürme errichtet wurden war klar, dass es sich um ein Straf- oder Gefangenenlager handeln muss, ein KZ-Außenposten des berüchtigten Lagers von Dachau war angelegt worden. „Den Zweck einer solchen Einrichtung kannten schon die meisten, doch hütete sich jeder darüber zu sprechen. Kaum einer wagte sich in die Nähe des Lagers“, schreibt Hans Ruf in seiner Chronik.
Als Anfang November 1944 der erste Häftlingstransport mit 1172 Menschen ankam, befand sich das Lager noch im Aufbau. Die Inhaftierten waren vorwiegend Juden aus Ungarn sowie beispielsweise auch aus Polen, Belgien, Holland, Frankreich, Litauen Rumänien, Griechenland, Tschechien und Deutschland. Gegen Jahresende soll die Zahl der Häftlinge auf etwa 1500 angestiegen sein. Sie wurden beispielsweise als Zwangsarbeiter für den Bau einer Arbeitersiedlung südlich des Lagers eingesetzt, die Frauen mussten unter anderem als Erntehelferinnen bei Bauern oder Näherinnen bei deutschen Familien arbeiten. Zum Teil konnten sich die zumeist in gestreifte Sträflingskleidung gezwungenen Häftlinge frei bewegen, so konnte den Lagerinsassen von der Bevölkerung Brot, andere Lebensmittel und auch Wäsche zugeschoben werden. „Es waren jedoch nur herzlich wenige aus der Türkheimer Einwohnerschaft, in denen sich für diese Menschen ein Gefühl regte. Der überwiegende Teil der Bevölkerung nahm von dem Lager und den Häftlingen keinerlei Notiz“, schreibt Hans Ruf in seiner Chronik. Die Verpflegung wurde immer weniger und schlechter, die Sterblichkeit im Lager immer höher. Die Toten verscharrte man oberflächlich in einer nahen Waldlichtung.
Die Zahl der Häftlinge, die das KZ Türkheim durchliefen, kann nicht eindeutig belegt werden, da für etliche das Lager nur Durchgangsstation war. Zudem sollen immer wieder Gruppen von Schwerarbeitenden anderer Kauferinger KZs zur „Schonung“ nach Türkheim gekommen sein, um eine kurze „Verschnaufpause“ einzulegen. Nach den Ludwigsburger Ermittlungen schwankte die Häftlingszahl zwischen 1000 und 2.500. Auf einer im April 1945 erstellten Luftaufnahme sind auf dem fünfeckigen, etwa einen Hektar großen Gelände rund 30 Erdhütten und Baracken zu erkennen, andere Schriftstücke sprechen von 50 Erdhütten. In den Baracken sollen Lazarett, Küche und Wachmannschaft untergebracht gewesen sein. Geführt wurde das Lager von Lagerkommandant Karl Hofmann, der sich nach Aussage mehrerer Häftlinge „verhältnismäßig menschlich“ verhalten habe. So soll er beispielsweise aus eigener Tasche Medikamente für die Kranken besorgt und versucht haben, Misshandlungen zu verhindern. Ihm standen SS-Aufseher und SS-Aufseherinnen zur Seite, eine Stufe darunter gab es die sogenannten Kapos, die Arbeit, Ordnung und Sauberkeit in den Wohnhütten organisierten. Hierbei handelte es sich um jüdische Häftlinge, die schon länger in mehreren Lagern waren und bestimmte Privilegien besaßen, oder um deutsche Kriminelle.
Die meisten Häftlinge im KZ Türkheim starben an Unterernährung
Gegen Ende des Krieges wurden die Essensrationen nochmals verknappt, die meisten Häftlinge starben an Unterernährung. Besonders beliebt waren deshalb die Erntearbeiten bei Bauern der Umgebung, da die Arbeitenden dort gut mit Essen versorgt wurden. Auch auf dem Weg zur Arbeit sollen Einheimische den Häftlingen Brot zugesteckt haben oder selbiges und Kartoffeln über den KZ-Zaun geworfen haben, um die Not etwas zu lindern. Das KZ Türkheim übernahm die Funktion eines sogenannten „Schonungslagers“, in dem Ärzte arbeiteten und es sehr wenige Medikamente wie Aspirin gab. In einer kleinen Krankenbaracke wurden die Patienten notdürftig versorgt. Unter den inhaftierten und im Lager tätigen Ärzten war auch Viktor E. Frankl, der Anfang März 1945 ins Lager Türkheim verlegt wurde. Zur selben Zeit brach aufgrund der schlechten hygienischen Verhältnisse eine Fleckfieberepidemie aus, die viele Inhaftierte das Leben kostete. Die Toten wurden im Wald verscharrt.
Am 22. April 1945 begann die SS-Wachmannschaft eine erste große Gruppe von Häftlingen zu evakuieren, indem sie sie auf einen Marsch über Kaufering in Richtung des KZ Dachau und Allach schickten. Am 26. April, unmittelbar vor der Befreiung, ließ der Lagerführer die anderen Häftlinge frei. Ein Teil der rund 400 Häftlinge floh in die umliegenden Wälder, ein Teil verblieb im Lager. Ein Delegierter vom Internationalen Roten Kreuz in Genf nahm die letzten Insassen unter seinen Schutz. Dennoch erschienen laut Aufzeichnungen von Viktor E. Frankl in der Nacht Lastautos der SS mit dem Befehl, das Lager sofort zu räumen und die Häftlinge ins Zentrallager nach Allach zu bringen. Die wenigen im KZ Türkheim Verbliebenen wurden in der selben Nacht von Gewehr- und Kanonenschüssen geweckt, die Front war da. Im Umfeld des Lagers kam es zu Gefechten zwischen der SS und den Alliierten, bei denen sich die SS-Angehörigen schließlich ergaben. Der Krieg endete für Türkheim am 27. April 1945 mit dem Einmarsch der US-Amerikaner.
Einige Türkheimer riskierten ihr Leben, um den Häftlingen zu helfen
Die nun befreiten Häftlinge, zu denen kurze Zeit zuvor noch ein Transport von jüdischen Frauen gekommen war, wurden sofort mit amerikanischen Lebensmitteln versorgt. Noch am Tage der Besetzung wurde in Türkheim bekanntgegeben, dass pro Familie ein Herrenanzug und ein Frauenkleid zur Erstversorgung abgeliefert werden müsse, das Salamanderwerk gab pro Person zudem zwei Paar Schuhe ab. Mehrere hundert ehemalige Häftlinge wurden in Türkheimer Privathäusern untergebracht. Der Gasthof Krone wurde zum Mittelpunkt der befreiten jüdischen KZ-Lagerinsassen. „Die Gemeinde und viele Bürger taten alles menschenmögliche, die Anweisungen der Militärregierung zu erfüllen und beizutragen, das unbeschreibbare Unrecht, das der nationalsozialistische Staat an vielen Völkern und Volksgruppen ausgeübt hatte, wieder gutzumachen“, schreibt Hans Ruf in seiner Chronik. Auf einen Befehl der Militärregierung mussten durch Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen die im Hardtwald verscharrten verstorbenen Lagerinsassen ausgegraben und in einer etwas weiter entfernten Waldlichtung bestattet werden. Die Gemeinde erhielt zudem die Anweisung, den Platz als Gedenkstätte anzulegen. In einer Gedenkstunde für die zahlreichen verstorbenen namenlosen Opfer des KZ-Lagers kündigte Bürgermeister Singer 1946 die Errichtung eines würdigen Mahnmals an, das 1950 errichtet wurde. Zu dieser Zeit lebten nach den Aufzeichnungen von Hans Ruf nur noch 20 Juden in der Marktgemeinde, die meisten waren in ihre Heimat zurückgekehrt oder beispielsweise in die USA ausgewandert.
Obwohl es streng verboten war, halfen immer wieder Türkheimerinnen und Türkheimer den Gefangenen nach Kräften mit heimlich zugestecktem Brot, sonstigen Lebensmitteln und Kleidung. Manch einer riskierte sogar sein eigenes Leben und versteckte KZ-Häftlinge zu Hause. In den Folgewochen werden wir Ihnen berührende Geschichten von mutigen Menschen erzählen. Kennen oder kannten Sie auch einen mutigen, hilfsbereiten Menschen aus dieser Zeit? Dann melden Sie sich gerne bei der Redaktion der Mindelheimer Zeitung unter der Telefonnummer 08261-991320 oder Email-Adresse redaktion@mindelheimer-zeitung.de
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