Eigentlich wäre es die perfekte Szenerie: ein prachtvolles Schloss unweit der sieben Hügel Bambergs, umschlossen von einem majestätischen Garten mit hohen Hecken. Es wäre die perfekte Szenerie für das mysteriöse Grab eines Kindes, über das man lange Zeit nicht viel mehr wusste, als dass es ein möglicher künftiger Herrscher aus dem siebten Jahrhundert war, der – warum auch immer – in der Unterallgäuer Ortschaft Mattsies (Markt Tussenhausen) begraben wurde. Doch anstelle des Kindes wartet hinter den Hecken von Schloss Seehof in Memmelsdorf bei Bamberg Johann Tolksdorf vom Landesamt für Denkmalpflege. Er hat die Ausgrabungen in Mattsies geleitet und gibt an diesem Tag mit seinem Team Aufschluss über das Rätsel des „Eisprinzen“.
„Die Überreste des Kindes sind mittlerweile bei Eva Kropf, einer privaten Anthropologin in Ingolstadt“, sagt Johann Tolksdorf. Sie war es, die Alter, Geschlecht und die vermutete Todesursache bestimmen konnte: zweijähriger Bub, sehr wahrscheinlich gestorben an einer schweren beidseitigen Mittelohrentzündung. Ein Großteil der restlichen Arbeit fand aber hier in Schloss Seehof statt. Wo genau, so wünscht sich Tolksdorf, soll lieber nicht erwähnt werden. Denn das Spannende am Fund ist nur bedingt das Skelett des Kindes selbst. Es sind auch die Grabbeigaben, die von unschätzbarem Wert sind. Und es ist die Art und Weise der Ausgrabung, die den gesamten Fund so gut erhalten hat und ihn darum so kostbar macht.
Forscher vermuteten unter dem Gelände in Mattsies eine römische Siedlung
Am Anfang war alles wie immer. Ein Neubaugebiet im ländlich gelegenen Mattsies im Oktober 2021. Wie an vielen anderen Orten in Bayern vermutet das Landesamt für Denkmalpflege auch unter diesem Gelände die Überreste einer römischen Siedlung. Tatsächlich entdeckt das Unternehmen, welches das Gebiet dahingehend untersucht, alte Gemäuer und eine Grabkammer. Anders als die meisten anderen frühmittelalterlichen Grabkammern ist diese jedoch nicht aus Holz, sondern aus Stein. Mit dem Unterschied: Holzkammern brechen irgendwann zusammen, durchfeuchten und werden für Archäologen verhältnismäßig unbrauchbar. Grabkammern aus Stein schützen ihr Inneres. In Mattsies offenbart die Kammer den Forscherinnen und Forschern Lederreste, alte Schalen, Schmuckstücke – und das Skelett eines Kindes.
Als das Grab des „Eisprinzen“ geöffnet ist, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit
„In dem Moment, in dem die Deckplatte runter war, fing die Uhr des Zerfalls an zu ticken“, sagt Tolksdorf. „Allen war klar: Jetzt muss irgendeine Lösung gefunden werden.“ Normalerweise würden die Forscherinnen und Forscher einen Kasten um das Grab bauen und es dann einfach mitnehmen. Wenn sich die Ausgrabungsstücke fest in der Erde befinden, geht das. In Mattsies liegen das Kind und die Grabbeigaben jedoch locker obenauf. Würde man wie üblich vorgehen, würde man den Fund unmöglich sicher nach Bamberg bringen können. Also müssen die Forscher das Innere der Kammer irgendwie stabilisieren. Dafür wagt Johann Tolksdorf mit seinem Team eine Bergungsmethode, die es in der Archäologie so noch nie gegeben hat.
Eine Woche, nachdem die Kammer entdeckt wurde, machen sich die Forscherinnen und Forscher mitten in der Nacht auf den Weg ins Unterallgäu, um die Grabstätte zu bergen. Im Gepäck haben sie nicht nur Elemente für einen Holzkasten, den sie um das Grab bauen wollen, sondern auch Wassersprühflaschen und flüssigen Stickstoff. Der Plan ist, die Kammer einzufrieren und so nach Bamberg zu transportieren. „Flüssiger Stickstoff hat die schöne Eigenschaft, dass er sofort in eine gasförmige Phase übergeht. Der Gasfilm hat die Objekte vor dem direkten Kontakt geschützt“, sagt Tolksdorf.
Bevor sie mit dem Grab losfahren, kaufen die Forscher zerstoßenes Eis von allen Tankstellen rund um Mattsies auf, um die Kiste auf der gut dreistündigen Fahrt nach Bamberg kühl zu halten. „Das war wahrscheinlich der größte Kostenpunkt der ganzen Bergung“, sagt Tolksdorf und lacht. Nach 21 Stunden ist es dann geschafft. Der Plan geht auf, das Grab kommt sicher in einer extra angelegten Kühlkammer in Bamberg an. Im Juli 2022 beginnen Tolksdorfs Kollegen Tracy Niepold und Helmut Voß damit, das Grab aufzutauen und zu untersuchen.
Im Grab liegen silberne Armreifen, ein goldbesetztes Schwert und Sporen
Dass das Kind später „Eisprinz“ genannt wird, liegt einerseits an dieser ungewöhnlichen Bergung, andererseits an den Gegenständen, die neben dem Jungen in der Kammer gefunden werden. Niepold und Voß haben sie nun aus den Kisten in Schloss Seehof geholt und auf dem Tisch ausgebreitet, an dem die beiden sonst arbeiten. Dort liegen unter anderem silberne Armreifen, ein Kurzschwert, Sax genannt, und Sporen, die bewusst für das zweijährige Kind angefertigt wurden – das logischerweise noch gar nicht reiten konnte. Außerdem fanden die Forscher einen Kleidungsrest aus Seide und ein für diese Zeit extrem großes Goldblattkreuz. Was hat das zu bedeuten?
Um den Fund besser zu verstehen, muss man sich in die Zeit hineindenken, in der der „Eisprinz“ bestattet wurde. Ende des siebten Jahrhunderts, im Frühmittelalter, herrschen die Franken im Unterallgäu. Das Christentum ist schon lange auf dem Vormarsch. Grabbeigaben sind zu dieser Zeit keine Hilfsmittel mehr für das Leben im Jenseits und auch keine emotionalen Geschenke an den Verstorbenen, sondern sie drücken Macht und Verbindungen aus.
„Wenn ich damals jemanden so jung mit so einem Reichtum bestatte, dann ist diese Bestattung ein Statement“, sagt Tolksdorf. Der Bub muss also zu einer Familie gehört haben, die ihren gesellschaftlichen Status präsentierte. „Sippe“ nennt sie Tolksdorf, weil das dem damaligen Verständnis von Familie näherkommt. Und für das Kind muss ein besonderer Weg vorgezeichnet gewesen sein. Durch den Tod, so vermutet der Forscher, könnte eine Art Machtvakuum entstanden sein, dem die Familie mit prunkvollen Grabbeigaben begegnete, um ihren Stand zu festigen.
Was vor dem Jahr 700 durch die Grabbeigaben inszeniert wird, zeigt später übrigens die Lage des Grabs. Um ihren Einfluss zu demonstrieren, begraben reiche Familien ihre Verstorbenen in der Zeit nach 700 in der Nähe von Kirchen. Darum könnte es den Forschern zufolge gut möglich sein, dass die Eltern und Geschwister irgendwo in der Nähe der Mattsieser Kirche liegen. All das sind natürlich Spekulationen und Interpretationen. Damit sie dennoch aussagekräftig sind, müssen Forscherinnen und Forscher etwas ganz Entscheidendes beachten.
In der Archäologie geht es darum, wie die Menschen von damals zu denken
Das Kernproblem der Interpretation von archäologischen Funden liegt nämlich darin, dass wir mit unserem heutigen Blick auf die Dinge schauen. „Aber die Menschen haben komplett anders gedacht als wir heute. Wir denken zum Beispiel viel individueller. Das hat damals keine Rolle gespielt, da ist man als Familie aufgestiegen, nicht als Individuum“, sagt Johann Tolksdorf. Es geht also darum, sich von der eigenen Gedankenwelt zu lösen und mit den Augen eines frühmittelalterlichen Menschen zu sehen – sofern irgendwie möglich.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Untersuchung der Kleidungsfetzen, die die Forscher an dem Jungen finden. Durch den Massenkonsum spielen Textilien heute eine eher untergeordnete Rolle. Damals hingegen sind bestimmte Techniken hierzulande noch gar nicht entwickelt. Die Seide, die Textilexpertin Tracy Niepold an dem Kind entdeckt, kann unmöglich von hier kommen. „Daran war im lateinischen Westen zu dieser Zeit gar nicht zu denken. Da ist ganz klar: Das kommt alles aus dem östlichen Mittelmeerraum, wahrscheinlich aus Byzanz“, sagt Niepold.
Vor Kurzem hat Niepold mit einer Weberin gesprochen, die die Techniken der damaligen Zeit beherrscht. „Ein Probeexemplar dieser Seide mit den Maßen 20 mal 20 Zentimetern würde heute 2000 Euro kosten“, sagt Niepold. Um den tatsächlichen Wert der Funde zu beziffern, müsste man wohl die geleisteten Arbeitsstunden zusammenrechnen. „Höchstwahrscheinlich waren die damals vierstellig“, sagt Johann Tolksdorf. Die Familie des „Eisprinzen“ war also nicht nur außergewöhnlich wohlhabend, sie muss auch über ausgezeichnete Verbindungen verfügt haben.
Die Ausgrabungsmethode und gute Dokumentation machen den „Eisprinzen“ zu einem einzigartigen Fund
Damit am Ende aber nicht nur die Interpretationen des Forscherteams von der Ausgrabung übrig bleiben, ist es wichtig, die Ergebnisse so gut es geht zu dokumentieren. Dafür hat Niepold mit ihrem Kollegen Helmut Voß ein Koordinatensystem entwickelt, auf dem sie jedes noch so kleine Detail aus der Grabkammer seiner genauen Stelle zuordnen können. Durch die Gefrierausgrabung ist jeder Knochen und jedes Schmuckstück dort geblieben, wo es vor Jahrhunderten hingelegt wurde. Auch das macht diesen Fund so einzigartig.
In Schloss Seehof scannt Helmut Voß gerade eine Holzschale aus der Grabkammer als 3D-Modell ein. Parallel laufen in Mainz die letzten DNA-Untersuchungen. Große Neuigkeiten sind jedoch nicht mehr zu erwarten. Durch die gelungene Dokumentation werden auch künftige Forscherinnen und Forscher nachvollziehen können, wie die Kammer ausgesehen hat. Sie werden eigene Interpretationen anstellen und vielleicht wird ja eines Tages jemand neue Überreste mit der DNA des Kindes in Verbindung bringen, die noch mehr Aufschlüsse darüber geben, wer vor mehr als 1300 Jahren der Prinz des Unterallgäus werden sollte.