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Nach Messerstecherei in Türkheim: Ein riesiges Tohuwabohu

Nach Messerstecherei in Türkheim

Ein riesiges Tohuwabohu

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    Ein riesiges Tohuwabohu
    Ein riesiges Tohuwabohu Foto: Fotolia

    Im Juni 2015 wurde die Polizei wegen einer Messerstecherei in eine Türkheimer Flüchtlingsunterkunft gerufen. Wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung saß nun der heute 21-jährige Nigerianer Abiola Z. (alle Namen von der Redaktion geändert) auf der Anklagebank im Memminger Landgericht. Doch dann kam alles anders als erwartet: Abiola Z., der aus der Untersuchungshaft ins Gericht gebracht worden war, verlässt den Saal als freier Mann. Stattdessen dürfte ein anderer wohl bald größere Probleme bekommen.

    Doch von vorn. Die Anklageschrift, die Staatsanwältin Susanne Fritzsche verliest, schildert den Fall wie folgt: Im Sommer 2015 soll sich Abiola Z. mit einem Landsmann in der Küche des Heims gestritten haben. Der Grund: Taio U. hatte die Füße auf die Kochstelle gelegt, die der Abiola Z. benutzen wollte. Taio U. schlug seinem damals 20-jährigen Kontrahenten mit der Faust ins Gesicht. Abiola Z. soll daraufhin mit dem Küchenmesser auf Taio U. losgegangen sein. Ein anderer Asylbewerber, Ugonna W., soll noch versucht haben zu schlichten, und sei dabei selbst am Arm verletzt worden. Abiola Z. stach mehrfach auf Taio U. ein, sodass dieser unter anderem eine fünf Zentimeter lange Schnittwunde am Hinterkopf davon trug, heißt es in der Anklage. Abiola Z. habe gedroht, ihn zu töten, und als Taio U. weggelaufen sei, habe er ihm das Messer hinterher geworfen und sich ein neues geholt. Mit einem Stuhl habe Taio U. sich noch zur Wehr gesetzt und sei dann in sein Zimmer geflüchtet.

    Die Version des Angeklagten klingt deutlich anders: Er habe schon länger Probleme mit Taio U. gehabt, erklärt Abiola Z., auch, weil dieser ihm einen Diebstahl anhängen wollte. An dem Tag im Juni sei er sehr müde und hungrig von der Arbeit nach Hause gekommen. Im Streit um die Herdplatte sei Taio U. auf ihn losgegangen und habe ihn dreimal mit der Faust ins Gesicht geschlagen. „Ich hatte das Messer in der Hand und war sehr, sehr wütend“, erklärt der Angeklagte. Ugonna W. habe seinen Arm festgehalten und er habe ihm das Messer gegeben. Ugonna W. habe dann alle Messer aus der Küche entfernt. Die beiden Männer kämpften weiter. Der 21-Jährige Taio U. habe ihm mit einem Stuhl auf den Kopf geschlagen, und als dieser zerbrach, weiter mit einem Teil des Stuhls auf den Rücken. „Ich habe Taio nicht verletzt. Ich hatte ein Messer, aber ich habe nie auf ihn eingestochen“, sagt der Angeklagte mit tränenerstickter Stimme. Immer wieder nimmt er das Kreuz des Rosenkranzes, der um sein rechtes Handgelenk gewickelt ist, in die Hand.

    Sein Kontrahent Taio U. trägt einen Rosenkranz um den Hals. Er wolle nichts als die Wahrheit sagen, erklärt er, denn Gott würde erkennen, wenn er lüge. Er bestreitet, Abiola Z. geschlagen zu haben. Der Angeklagte habe ihn schon früher bedroht. An dem Tag im Juni sei Abiola in die Küche gekommen, habe sofort ein Messer genommen und ihn am Kopf getroffen, so der Nigerianer. Die vorsitzende Richterin Brigitte Grenzstein will es genauer wissen: Wie standen die beiden zueinander? Wie näherte sich der Angeklagte? Der Zeugentisch wird zum Herd, der Gerichtssaal verwandelt sich in die Küche. Taio U. kann nicht erklären, wie Abiola Z. auf ihn eingestochen haben soll – und landet schließlich in Beugehaft.

    Die folgenden Zeugenaussagen sind wenig erhellend: Als die drei Polizisten im Juni zu dem Heim kamen, hätten zahlreiche Flüchtlinge auf sie eingeredet und ihnen schließlich die beiden Streithähne sowie zwei Messer gebracht. Als „Riesen-Tohuwabohu“ beschreibt ein Beamter die Situation, nicht nur wegen der Sprache. Die Polizisten wollten Spuren sichern, aber da war das Blut in der Küche bereits aufgewischt. Zum Missfallen von Richterin Grenzstein wurden zudem weder die Spuren an den Messern noch die Blutflecken an dem Stuhl analysiert.

    Auch die Aussagen zweier weiterer Asylbewerber, darunter des Streitschlichters Ugonna W., bringen nur noch weitere Versionen des Geschehens, aber wenig Neues zu der eigentlichen Frage: Hat Abiola Z. mit dem Messer auf Taio U. eingestochen? Keiner hat die „Messerstecherei“ direkt beobachtet. Ein anderer Zeuge erscheint erst gar nicht – er ist seit Juli verschwunden.

    Licht ins Dunkel der Geschichte bringt erst die Aussage des Arztes des Klinikums in Kaufbeuren, in dem Taio U. behandelt worden ist: „Dieser Patient hat am Hinterkopf und über der Lippe eine Platzwunde gehabt“, erklärt der Arzt. Ihm sei damals schon aufgefallen: „Die Messerstecherei passte nicht zur Wunde.“ Der Angeklagte Abiola Z. hatte bei dem Kampf ebenfalls erhebliche Blessuren erlitten, darunter eine gebrochene Nase, eine Blutung an der Gehirnhaut, Verletzungen am Rücken sowie ein Hämatom am Augeninnenwinkel. Landgerichtsarzt Dr. Horst Bock spricht von „massiver Gewalteinwirkung“.

    „Da sitzt der Falsche auf der Anklagebank“, schlussfolgert Richterin Grenzstein. Doch trotz der gegenteiligen Zeugenaussagen und selbst nach den Erfahrungen der Beugehaft besteht Nebenkläger Taio U. darauf, dass er Abiola Z. nicht geschlagen habe – weder mit der Faust noch mit dem Stuhl. Das ohnehin bereits laufende Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen der Faustschläge dürfte nun noch um die Falschaussage vor Gericht ergänzt werden.

    Die Vorwürfe gegen Abiola Z. werden fallen gelassen: Die versuchte Tötung habe es nicht gegeben, es bleibe die Körperverletzung zum Nachteil von Streitschlichter Ugonna W., so die Richterin. Der Angeklagte verzichtet auf eine Entschädigung für die U-Haft; das Verfahren wird auf Antrag der Staatsanwaltschaft eingestellt. Abiola Z. kann es kaum glauben: Er ist wieder frei.

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