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MZ-Interview: Corona ist für das Unterallgäuer Gesundheitsamt ein Marathonlauf

MZ-Interview

Corona ist für das Unterallgäuer Gesundheitsamt ein Marathonlauf

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    Auch wenn es mitunter „Holperer“ gebe – in den Virus-Teststationen Sonthofen (unser Bild) und Kempten läuft es laut Gesundheitsamt Oberallgäu gut. 2500 bis 3000 Tests finden dort momentan pro Woche statt.
    Auch wenn es mitunter „Holperer“ gebe – in den Virus-Teststationen Sonthofen (unser Bild) und Kempten läuft es laut Gesundheitsamt Oberallgäu gut. 2500 bis 3000 Tests finden dort momentan pro Woche statt. Foto: Ralf Lienert

    Der Corona-Inzidenzwert in Allgäuer Städten und Landkreisen ist weiterhin hoch, die Wirtschaft ächzt unter den Folgen des teilweisen Lockdowns – und niemand weiß, wie lange die Einschränkungen bestehen bleiben. Dr. Ludwig Walters, Leiter der Gesundheitsämter im Ober- und Unterallgäu sowie Ralph Eichbauer, Leiter der Abteilung Mensch und Gesellschaft am Landratsamt Oberallgäu, sprechen in dieser Situation über die Arbeit der Behörden, die Einhaltung von Spielregeln und die teils harsche Kritik von Bürgern.

    Die zweite Corona-Welle war absehbar. Hätten die Gesundheitsämter nicht schon im Sommer mehr Mitarbeiter einstellen müssen?

    Walters: Ja, es gab eine Vorahnung, dass die zweite Welle kommen wird. Das heißt aber nicht, dass man vorsorglich zig neue Mitarbeiter einstellen kann. Das muss ja alles koordiniert werden, von den Büros bis zur Computer-Ausstattung. Außerdem gehört ein umfangreiches Einstellungsprozedere dazu. Dennoch haben wir im Oberallgäu die Personalstärke nach dem Frühjahr verdoppelt auf 50 Mitarbeiter, inzwischen sind wir bei 80. Bis zur Einstellung zusätzlicher Kräfte wurden wir aus anderen Bereichen des Landratsamtes massiv unterstützt.

    Ludwig Walters
    Ludwig Walters

    Kam der zweite Lockdown zu spät?

    Eichbauer: Aus medizinischer Sicht wäre ein früherer Lockdown eventuell sinnvoll gewesen, politisch war er aber nicht durchsetzbar. Im Oberallgäu haben wir in der Woche vor dem Lockdown den Sieben-Tage-Inzidenzwert von 100 gerissen. Da mussten wir zehn bis 15 Kontakte pro positiv Getestetem nachverfolgen. Der Lockdown lässt hoffen, dass diese Zahl deutlich sinken wird, da konzentriert sich Vieles auf Familie und Arbeit. Wir können nicht Hunderte Infektionsketten pro Woche genauestens erfassen. Ziel ist jetzt, eine Inzidenz von unter 50 zu erreichen – eine wichtige Marke.

    Die Zahl der positiv Getesteten ist im Vergleich zum Frühjahr erheblich gestiegen. Wie es mit der Zahl derer, die tatsächlich Symptome entwickeln?

    Walters: Wir machen die Erfahrung, dass es mehr positiv Getestete gibt, die auch Symptome zeigen.

    Während des Sommers hieß es, dass an Covid-19 Erkrankte weniger schwere Krankheitsverläufe hätten als zu Beginn der Pandemie. Stimmt das und nimmt der Anteil schwerer Krankheitsverläufe wieder zu?

    Walters: Es ist zu früh, um das für die zweite Welle verbindlich sagen zu können. Es ist aber sehr wohl so, dass die Zahl der Krankenhaus-Einweisungen zunimmt. Wir machen hier vor Ort auch die Erfahrung, dass auch jüngere Menschen Symptome zeigen und teilweise stärker oder länger erkranken. Die Zahl der intensiv therapiepflichtigen Patienten bekommen wir nur indirekt mit, etwa über Klinik-Kontakte.

    Eichbauer: Die Zahl der Corona-Patienten in den Kliniken Kempten-Oberallgäu steigt aktuell deutlich. Im März waren es 28, im Oktober 25. Nun sind es in den ersten beiden Novemberwochen bereits 28.

    Intensivstationen vor dem Kollaps? Nicht im Allgäu

    Ist wegen der steigenden Infektionszahlen davon auszugehen, dass bald die Klinik-Betten knapp werden?

    Eichbauer: Generell sind wir in der Intensivversorgung sehr gut ausgestattet. Ich sehe derzeit im Raum Kempten-Oberallgäu keine Problemlage. Niemand muss sich Sorgen machen, dass nicht genug Plätze verfügbar sind. Auch personell sind die Kliniken sehr gut vorbereitet, auch im Bereich der der Intensivpflege. Die einzige Frage ist, ob es eine landesweite Verteilung von Patienten gibt, weil andernorts Betten fehlen.

    Viele Labore sind überlastet. Sollte der Freistaat Menschen ohne Symptome nicht mehr kostenlos testen bzw. sollten generell nur noch Menschen mit Symptomen getestet werden?

    Walters: Die Tests durch das Gesundheitsamt betreffen Personen ohne Symptome nur dann, wenn sie direkten Kontakt zu positiv Getesteten hatten. Wir sind bei hoher Beanspruchung noch nicht über der Kapazitätsgrenze, auch das Labor nicht, mit dem wir zusammenarbeiten. Das gilt auch für die Testzentren in Kempten und Sonthofen. Da kann es kurzfristig Holperer in den Abläufen geben, insgesamt aber läuft es dank klarer Zeitfenster gut.

    Eichbauer: Bisher sind alle Tests zu stemmen. Derzeit haben wir wöchentlich 2500 bis 3000 Tests in unseren Testcentern. Mit Blick auf die Zukunft ist es aber richtig, dass die Staatsregierung ihre Strategie kostenloser Tests überprüft.

    Es gibt immer wieder Fälle, bei denen Corona-Kranke bei PCR-Tests negative Ergebnisse erhielten. Es gab auch falsche positive Ergebnisse. Wie zuverlässig sind die Tests?

    Walters: Das PCR-Verfahren in den Labors ist Standard. Es gibt in meinen Augen keinen Anlass für begründete Zweifel an den Tests oder deren Auswertung.

    Coronavirus: Einige beachten Hygieneregeln nicht

    Wie beurteilen Sie die aktuellen Hygienemaßnahmen in Bayern?

    Walters: Aus unserer Wahrnehmung heraus, etwa im Bereich von Schulen und Kliniken, werden diese gut umgesetzt. Die Frage, wie man das Ganze grundsätzlich handhaben soll, etwa bei Risikogruppen oder im Tourismus, ist nicht Sache eines einzelnen Gesundheitsamtes.

    Eichbauer: Die Hygieneregeln sind gut, sie werden aber nicht immer überall gleich gelebt.

    Die Maskenpflicht am Alpsee oder am Rand der Kemptener Innenstadt, wo kein Gedränge herrscht, halten etliche Bürger für überzogen …

    Walters: Vorsorge ist ein wichtiges Mittel beim Eindämmen der Pandemie. Irgendwo gibt es immer eine Art Grenzlinie, wie im Straßenverkehr mit einer Tempobegrenzung. Es sollten sich halt alle daran halten, dann kann es auch gelingen.

    Eichbauer: An Stellen wie der Alpsee-Promenade ist bei schönem Wetter immer viel los, da macht die Maskenpflicht Sinn. Bei 75 Prozent der positiv Getesteten kennen wir die Quelle der Ansteckung nicht. Darum hat Vorsorge so hohe Bedeutung. Ich denke aber, dass unsere Richtung stimmt, auch wenn nicht immer alles millimetergenau passt.

    Gesundheitsamt Unterallgäu sehr belastet - jedoch gut aufgestellt

    Wie sehr am Limit sind die Gesundheitsämter im Ober- und Unterallgäu?

    Walters: Wir sind sehr belastet. Aber da wir versucht haben, frühzeitig zu reagieren, sind wir gut aufgestellt. Mit den jetzigen Zahlen können wir umgehen, auch vorübergehende Steigerungen können wir stemmen, wenn es sein muss. Derzeit arbeiten die Mitarbeiter bis zu zehn Stunden an sechs Tagen in der Woche. Da sind Erholungsphasen wichtig. Wir absolvieren einen Marathonlauf mit hohem Tempo, wissen aber nicht, wie viel wir schon geschafft haben.

    Eichbauer: Wir muten den Mitarbeitern viel zu. Im Gesundheitsamt Oberallgäu haben wir jetzt 80 Köpfe – Ärzte, medizinisches Personal, Beamte, Verwaltungskräfte und externe Helfer. Das Ende der Fahnenstange ist aber noch nicht erreicht.

    Stimmt es, dass nicht alle Mitarbeiter einen eigenen E-Mail-Account haben und es deshalb bei Rückfragen klemmt?

    Walters: Jeder Mitarbeiter hat seine eigene IT-Ausstattung, aber nicht jeder braucht einen eigenen Mail-Account. Wichtig ist die Erreichbarkeit des jeweiligen Teams, über deren Funktions-Mail-Adressen ist jeder Mitarbeiter erreichbar.

    Ralph Eichbauer
    Ralph Eichbauer

    Eichbauer: Die Mitarbeiter sollen gar nicht alle persönlich erreichbar sein. Wir müssen ein Datenvolumen nie gekannten Umfangs bearbeiten. Da sind effektive Strukturen nötig.

    Ist die IT-Ausstattung tatsächlich so lückenhaft, dass der Datenaustausch mit Laboren, Ärzten oder Ämtern nicht automatisiert laufen kann?

    Walters: Es gibt keine einheitliche Datenstruktur zwischen den genannten Bereichen. Wir haben aber ein Verfahren entwickelt, um Testdaten effizient auszutauschen. Und Bürger bekommen die Daten mittels QR-Code rasch auf ihr Handy. Wir waren hier innovativ und schnell.

    Können alle, die in Quarantäne müssen, rechtzeitig informiert werden? Betroffene kritisieren, sie seien erst vier, fünf Tage nach Bekanntwerden eines kritischen Kontakts angerufen worden.

    Walters: Das sind Einzelfälle, in der Regel informieren wir deutlich schneller. Das Problem ist, dass die Nachverfolgung oft viel Zeit in Anspruch nimmt. Wenn wir von einem positiven Test erfahren, müssen wir mit dem Betroffenen reden und können erst dann die Kontaktpersonen angehen. Bei 50 Kontakten dauert es logischerweise, bis wir auch den letzten erreicht haben. Mitunter beruht die Verzögerung auch auf der späten Übermittlung von Ärzten oder der notwendigen Einbindung anderer Gesundheitsämter.

    Virologen wie Hendrik Streeck halten fünf Tage Quarantäne für ausreichend. Warum setzen Sie 14 Tage an?

    Walters: Die 14 Tage sind eine Vorgabe des Robert-Koch-Instituts, die auf der Inkubationszeit des Covid-19-Erregers beruht. Auch die gesetzlichen Regelungen in Bayern geben dies vor. Es stimmt, dass Corona häufig in der ersten Woche nach der Ansteckung ausbricht. Es kann aber auch am 13. oder 14. Tag auftreten.

    Wie wirksam ist die Hilfe von Bundeswehr-Soldaten?

    Walters: Gerade beim Abtelefonieren der Kontakte helfen uns Externe vortrefflich. Im Oberallgäu haben wir zehn Soldaten eingesetzt, im Unterallgäu sind es vier.

    Mitarbeiter eines Reisebüros hatten sich auch zur Kontaktverfolgung angeboten – warum wurden sie abgelehnt?

    Eichbauer: Wir haben auch Helfer von THW und anderen Organisationen. Weil es aber um hoheitliche Aufgaben geht, dürfen wir das nicht in die Privatwirtschaft verlagern.

    Friedrich Pürner, Gesundheitsamtschef von Aichach-Friedberg, wurde versetzt, nachdem er Teile der bayerischen Corona-Strategie kritisiert hatte. Was sagen Sie dazu?

    Walters: Ich kenne Herrn Pürner als Amtskollegen, will das Thema aber nicht bewerten.

    Wie viel Kritik schlägt Ihren Kollegen von außen entgegen und wie geht Ihre Behörde mit verärgerten Bürgern um?

    Walters: Wir werden im Einzelfall durchaus mal hart angegangen. In der Breite ist bei den Bürgern aber Verständnis da, die Mehrzahl geht unseren Weg mit. Umgekehrt haben wir Verständnis, dass beispielsweise Quarantänemaßnahmen für Betroffene eine einschneidende Wirkung haben können. Darum versuchen wir, transparent zu sein und sachlich zu überzeugen. Wir verbringen fast die Hälfte der Zeit mit Argumentieren. Und manchmal sind wir fast so etwas wie Seelsorger.

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