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Bad Wörishofen: Kinderschuhe vor Unterallgäuer Rathäusern: „Diese Entwicklung ist besorgniserregend“

Bad Wörishofen

Kinderschuhe vor Unterallgäuer Rathäusern: „Diese Entwicklung ist besorgniserregend“

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    Gebastelte Plakate, Kinderschuhe: Eltern hatten zuletzt vor dem Rathaus in Bad Wörishofen unter anderem gegen die Corona-Testpflicht an Schulen protestiert – dort ist auch dieses Foto entstanden.
    Gebastelte Plakate, Kinderschuhe: Eltern hatten zuletzt vor dem Rathaus in Bad Wörishofen unter anderem gegen die Corona-Testpflicht an Schulen protestiert – dort ist auch dieses Foto entstanden. Foto: S. Böhm

    Zwischen selbst gebastelten Plakaten standen unlängst Kinderschuhe vor dem Bad Wörishofer Rathaus. Hier wie im ganzen Unterallgäu und im gesamten Bundesgebiet hatten sich Eltern einem stillen Corona-Protest angeschlossen. Mit der Aktion wendeten sie sich gegen geltende Maßnahmen der Corona-Beschränkungen im Umfeld von Kita-Kindern, Schülerinnen und Schülern. „Kinder brauchen Bildung“ steht beispielsweise auf einem Plakat. Von manchen kritisch gesehen wird auch das regelmäßige Testen symptomloser Kinder. Als Bürgermeister Stefan Welzel (CSU) die Aktion vor dem Rathaus mitbekam, kam er vor das Gebäude und mit mehreren Müttern ins Gespräch. Er zeigte Verständnis für alle Beteiligten und die nun seit Monaten andauernde, schwierige Situation im Kita- und Schulumfeld. Die Bilder der aufgereihten Kinderschuhe samt Grablichter assoziieren einige allerdings mit dem Holocaust im Dritten Reich. Auch eine empörte MZ-Leserin meldete sich und verwies auf Tausende tote jüdische Kinder in den Konzentrationslagern. Die Teilnehmer hingegen distanzieren sich von den Vorwürfen, oder geben an, nichts von einer solchen Symbolik zu wissen. Diesen Umstand nennt Rechtsextremismus-Experte Sebastian Lipp sehr bedenklich.

    Der Journalist Lipp beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der rechtsradikalen Szene in unserer Region. „Diese Entwicklung ist besorgniserregend“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Die „Aktion Kinderschuhe“ stamme ursprünglich aus der Querdenkerszene, sagt Lipp. Die ersten Aufrufe, berichtet er, seien durch die Querdenkergruppen in diversen Kanälen gelaufen. Von dort hätte die Aktion auch außerhalb der Szene ihre Kreise gezogen. So habe die Querdenkerszene weit in bürgerliche Kreise vordringen können. „Das ist Kalkül. Mit dem langfristigen Ziel, sich in der Außenwirkung und der Öffentlichkeit eine moderate Position zu schaffen“, sagt der Rechtsextremismus-Experte. „Und das ist ganz offensichtlich auch aufgegangen.“ Bundesweit hatten sich im April Menschen zu Protestaktionen getroffen, um sich für die Rechte ihrer Kinder starkzumachen – zuletzt auch in Bad Wörishofen und anderen Orten im Unterallgäu.

    Extremismus-Experte Lipp rät, auf jeden Fall hellhörig zu werden, bevor man sich Aktionen anschließt

    So ähnlich war es auch bei weiteren Protesten unter dem Titel „Aktion Kinderschuhe“ andernorts in Deutschland der Fall. Diese vermeintlich spontanen Versammlungen, berichtet der Experte, weisen indes – neben der Symbolik – jedoch einige Parallelen auf, die nicht von der Hand zu weisen seien. Etwa seien die Plakate teils in Wortlaut und Aufmachung identisch. Bezug zur Querdenkerszene, dem Ursprung der „Aktion Kinderschuhe“, habe nach Angaben der Teilnehmer nirgends bestanden. Die Aussagen einiger, nichts von der Symbolik zu wissen, seien in dieser Häufung indes zudem recht auffällig, sagt Lipp: „Das mag vereinzelt stimmen, aber in dieser Masse ist es nur wenig glaubhaft.

    Dieses Muster ist zudem bekannt, diese Reaktionen überraschen mich deshalb nicht.“ Schon ein einfaches Googeln nach dem Titel der Aktion wäre ausreichend gewesen, sagt er, um sich der Problematik der Symbolik bewusst zu sein. Zudem sei es mittlerweile gemeinhin bekannt, dass das Thema Corona sehr stark benutzt wird – eben auch von Rechten. Lipp empfiehlt: „Da sollte man auf jeden Fall hellhörig werden und sich informieren, bevor man auf eine solche Protestaktion geht.“ Denn die Symbolik der „Aktion Kinderschuhe“ sei allemal hochproblematisch, betont der Rechtsextremismus-Experte. Die aufgereihten Kinderschuhe wirken zunächst tatsächlich wie ein harmloser Protest. Doch die Erinnerungen, die diese Bilder bei manchen wecken, sind grausam.

    Bei diesen Protesten würden "ganz offensichtlich NS-Verbrechen relativiert", sagt Lipp

    Der Autor Johannes R. Becher (1891 bis 1958) schreibt etwa in einem Gedicht über die Morde an Millionen Kindern im Nationalsozialismus. Der Kindermord sei klar erwiesen, dichtet er, „und nie vergess ich unter diesen, die Kinderschuhe aus Lublin“. Diese Schilderung beruht auf dem Bild von Bergen an Kinderschuhen, die bei der Befreiung in den KZ-Lagern gefunden wurden und die Dimension der Morde vermitteln. „Es ist erstaunlich, dass das in Deutschland offenbar kaum jemandem auffällt. Dabei werden bei diesen Protesten ganz offensichtlich NS-Verbrechen relativiert und das Gedenken daran entwertet“, sagt Lipp. Im Fall der „Aktion Kinderschuhe“ werde der Einsatz für die Rechte der Kinder vorgeschoben. „Sind die Menschen von außerhalb der Szene erst einmal vor Ort, werden ihnen die einschlägigen Botschaften sozusagen eingeimpft und sie werden langsam radikalisiert“, warnt Lipp. „Diese Leute werden bezüglich der Querdenkerszene nicht verdächtigt, aber sie tragen den Diskurs weiter in die Gesellschaft.“ Die Argumentation der Szene sei dabei auf den ersten Blick oft schlüssig, sagt Lipp: „Das kann gefährlich sein.“ Deshalb sollte man die Aussagen immer hinterfragen und im Gesamtkontext betrachten.

    Eltern, die mit der Situation unzufrieden sind, und deshalb auf die Straße gehen wollen, müssen aufgrund solch besorgniserregender Entwicklungen freilich nicht darauf verzichten, betont Lipp: „Aber man sollte sich im Vorfeld schon genau ansehen, wofür man da auf die Straße geht und mit wem man sich gemeinmacht.“ Die Querdenker-Bewegung zeichne sich etwa durch ein sehr egoistisches Forderungsprofil aus. „In erster Linie geht es darum, die Freiheit des Einzelnen nicht einzuschränken.“

    Der Experte empfiehlt daher, den eigenen Protesten einen solidarischen Ansatz zu geben. Lipp: „Das schreckt die Querdenker in aller Regel ab.“

    Sebastian Lipp ist Journalist und beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der rechtsradikalen Szene in Südschwaben. In dem Blog „Allgäu rechtsaußen“ dokumentiert der Kemptener die Aktivitäten der Rechten in der Region. Außerdem arbeitet er als freier Journalist für überregionale Medien. Im Mai 2019 zeichnete ihn der Bayerische Journalistenverband für die von ihm herausgegebene umfangreiche Recherche zum rechten Untergrund im Allgäu mit einem Preis zum Tag der Pressefreiheit aus.

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