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Kambodscha: Die vergessenen Mädchen von Siem Reap

Kambodscha

Die vergessenen Mädchen von Siem Reap

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    Die junge Lehrerin Tort wurde mit nur einem Arm geboren. Aber sie hat sich durchgekämpft - und will jetzt Hochschullehrerin werden.
    Die junge Lehrerin Tort wurde mit nur einem Arm geboren. Aber sie hat sich durchgekämpft - und will jetzt Hochschullehrerin werden. Foto: Stephan Rumpf

    Heute sind die Früchte dran. Tort hält eine kleine Karte mit einer aufgemalten Melone in die Höhe. 31 Kinder brüllen begeistert Silbe für Silbe und klatschen dazu rhythmisch in die Hände: Wa-ter-me-lon. Dann malen sie die Buchstaben auf ihre Schiefertafeln, einen nach dem anderen. Es ist heiß unter dem Wellblechdach des Holzverschlags, in dem Tort den Kindern des kleinen kambodschanischen Dorfes in der Provinz Siem Reap Englisch beibringt.

    Die Mädchen und Buben zwischen sieben und zwölf Jahren teilen sich jeweils zu dritt zwei Sitze. Die roten Plastikstühle hat Tort für diesen Nachmittag, an dem sich Besucher aus Europa angekündigt haben, aus der Grundschule geliehen, die Holztische aus der Pagode. Normalerweise hocken die Kinder zum Lernen auf dem staubigen Lehmboden.

    Die junge Generation in Kambodscha ist wissbegierig und lernbereit. Sie ist – nach der dunklen Vergangenheit – die Zukunft des Landes.
    Die junge Generation in Kambodscha ist wissbegierig und lernbereit. Sie ist – nach der dunklen Vergangenheit – die Zukunft des Landes. Foto: Stephan Rumpf

    Drei Gruppen unterrichtet die 23-Jährige jeden Spätnachmittag in ihrer kleinen Privatschule. Ein Honorar bekommt sie dafür nicht. Außer ein paar Orangen vielleicht, eine Mango oder eine Flasche Saft, die die Eltern der Dorfkinder ab und zu vorbeibringen. Tort sagt: „Nur wer Englisch kann, hat später eine Chance in Kambodscha.“

    Die weltberühmte Tempelstadt von Angkor Wat, die größte Attraktion des Landes, ist nur sechs Kilometer von Torts Heimatdorf entfernt. Doch ins Dorf verirrt sich keiner der gut 4,5 Millionen Touristen, die jedes Jahr das Weltkulturerbe besuchen. Die Landbevölkerung bekommt von den Milliardeneinnahmen bisher kaum etwas ab.

    Selbst für Gesunde ist das Überleben ein täglicher Kampf

    „Ich will meinem Dorf mit dem Englischunterricht etwas zurückgeben von dem, was ich vom Leben alles bekommen habe“, sagt Tort. Bildung. Und eine Chance, die sie genutzt hat. Denn Tort wurde mit nur einem Arm geboren, in einem Land, in dem selbst für einen Gesunden das Überleben ein täglicher Kampf ist. „Als Kind war sie oft traurig“, erzählt ihre Mutter Kheng Hart, 56. Weil sie wie die anderen sein wollte. Vieles aber einfach nicht konnte.

    Jeden Nachmittag unterrichtet Tort die Dorfkinder ehrenamtlich in Englisch.
    Jeden Nachmittag unterrichtet Tort die Dorfkinder ehrenamtlich in Englisch. Foto: Stephan Rumpf

    Torts Eltern sind Reisbauern. So wie 80 Prozent aller Kambodschaner, die als Kleinbauern von dem leben, was ihre Felder hergeben. Vater Hass Hoy, 60, verdient mit dem Flicken von Fahrrad- und Moped-reifen ein bisschen was dazu. Auf ihrem Grundstück stehen drei einfache Stelzenhäuser aus Holz. Im Hof spielen Torts Nichten und Neffen. Ein paar Hunde dösen in der Sonne, Hühner picken im Staub. Einer der Neffen treibt die sechs Kühe der Familie in den Stall. Auf dem angrenzenden Feld wuchern Bananen, Kürbisse, Wasserspinat und Tabak.

    An der Grundschule betreut Tort die Bücherei.
    An der Grundschule betreut Tort die Bücherei. Foto: Stephan Rumpf

    Tort teilt sich mit ihrem jüngeren Bruder und dem kleinen Neffen eine der Hütten, zu der eine steile Treppe hinaufführt. Ein Bett, ein Moskitonetz, ein paar Kisten und Plastiktüten, ein Stapel Hefte und Bücher – das ist Torts Besitz. Die Wand hat sie mit bunten Postern von thailändischen Schauspielerinnen und Sängern tapeziert. Ein paar Säcke voller Reissaat, die fast so hoch sind wie die zierliche junge Frau, teilen den Raum.

    „Tort ist ehrgeizig“, sagt Kheng Hart stolz. Ein Vorbild. Sie hat trotz ihres Handicaps Radfahren gelernt, später Mopedfahren. Sie holt Wasser an der Pumpe hinter dem Grundstück, hilft der Mutter am offenen Feuer beim Kochen. Sie hat sich ein gleichberechtigtes Leben erkämpft. Obwohl sie jedes ihrer sieben Kinder zur Schule geschickt haben, sagt Kheng Hart, ist Tort die einzige mit Abschluss. Die anderen sind nach der ersten oder der vierten Klasse abgegangen und arbeiten heute im Nachbarland Thailand als Tagelöhner.

    „Sogar beim Kühehüten hatte Tort ihre Bücher dabei“, erzählt die Mutter. Sie selbst hatten diese Chance zum Lernen nicht, die Eltern können weder lesen noch schreiben. „Als wir jung waren, wären wir auch gerne zur Schule gegangen“, sagen sie, „aber das gab’s damals nicht.“

    Tort vor ihrem Elternhaus in der Nähe der weltberühmten Tempelanlagen von Angkor Wat.
    Tort vor ihrem Elternhaus in der Nähe der weltberühmten Tempelanlagen von Angkor Wat. Foto: Stephan Rumpf

    Als sie jung waren, lag das Land am Boden – durch jahrzehntelange Bürgerkriege und die Terrorherrschaft der Roten Khmer, die einen Einheits-Bauernstaat formen wollten und alle Intellektuellen, Künstler, Wissenschaftler und Lehrer umbringen ließen. Keiner kümmerte sich damals um das Thema Bildung – weil alle damit beschäftigt waren, überhaupt zu überleben. Das ist vier Jahrzehnte her – doch die Folgen sind immer noch spürbar: weil Lehrer fehlen und eine gebildete Mittelschicht.

    Tort zieht eine zerknitterte Plastikhülle hervor. Darin bewahrt sie einen Brief auf gelbem Papier auf, den sie wie einen Schatz hütet. Als sie zehn war, wurde Tort als eines der ersten Patenkinder in ihrem Dorf in das Förderprogramm des Kinderhilfswerks Plan International aufgenommen. Sie bekam Unterstützung und Briefe der Pateneltern, einem deutschen Ehepaar.

    Tort in ihrem Teil der Hütte, die sie zusammen mit ihrem jüngeren Bruder bewohnt.
    Tort in ihrem Teil der Hütte, die sie zusammen mit ihrem jüngeren Bruder bewohnt. Foto: Stephan Rumpf

    2.500 kambodschanische Kinder haben einen Sponsor in Deutschland. Die Spendengelder aber kommen dem gesamten Dorf zugute, sagt Plan-Programm-Manager Yi Kimthan: etwa in Form von Schulprojekten, Ausbildungsprogrammen, Kinderschutz-Maßnahmen oder Hygieneschulungen. Es geht immer um den gesamten Ort – damit kein Neid entstehe unter den Bewohnern.

    Tort hat ihren Highschool-Abschluss gemacht, studiert. Inzwischen ist sie Grundschullehrerin und leitet die Schulbibliothek der Phum Nokor Krao-Grundschule, die elf Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt ist. Mit dem Moped kurvt sie jeden Morgen auf der löchrigen Sandpiste zur Arbeit.

    Tort hilft ihren Eltern trotz ihrer Behinderung bei der Feldarbeit.
    Tort hilft ihren Eltern trotz ihrer Behinderung bei der Feldarbeit. Foto: Stephan Rumpf

    Mit den 900.000 Riel – etwa 185 Euro –, die sie dort monatlich verdient, unterstützt sie die Eltern. Und spart einen Teil für ihren großen Traum: In spätestens zehn Jahren, sagt sie, möchte sie als Hochschullehrerin arbeiten und ihre Lieblingsfächer Englisch und Khmer-Literatur unterrichten. Das Lehrerstudium in der Hauptstadt Phnom Penh dauert vier Jahre, es wird staatlich gefördert, einen Teil davon müssen die Studenten aber selbst aufbringen.

    Nach Angaben der Regierung gehen in dem Land, in dem 40 Prozent der Bewohner jünger als 18 Jahre sind, 98 Prozent aller Kinder zur Schule. Doch was heißt das schon – in Klassen mit 50 oder 60 Kindern? In Schulen, in denen ein Lehrer drei Klassen gleichzeitig unterrichten muss, weil zu wenige Kollegen aufs Land wollen? Jedes dritte Kind verlässt die Schule nach der vierten Klasse. Um dann – wie Torts Geschwister – als Hilfsarbeiter auf dem Feld zu schuften, in den Textilfabriken oder in Thailand auf dem Bau.

    Mädchen werden in Kambodscha benachteiligt

    Vor allem für Mädchen reicht die Grundschule aus, meinen viele Eltern. Weil sie sowieso heiraten. Kinder kriegen. Das Haus versorgen. Dieses Rollenbild ist tief verankert in der kambodschanischen Gesellschaft.

    Jedes Schulkind hat das „Chbab Srey“, ein Gedicht aus dem 19. Jahrhundert, bis 2007 im Unterricht gelernt. In einer verkürzten Version wird es bis heute gelehrt. „Der Weg, eine perfekte Frau zu werden“, lautet der Titel. Ein Lob auf die traditionelle Geschlechterrolle, die unter anderem vorsieht, dass der Mann die Frau schlagen darf, wenn das Essen angebrannt ist. Oder sie das Haus verlässt, ohne es ihm zu sagen. Und die Hälfte aller Kambodschanerinnen zwischen 15 und 49 Jahren, hat eine Umfrage der UN ergeben, glaubt tatsächlich noch, dass Frauen ihren Männern gehorchen müssen.

    Viele Mädchen müssen die Schule nach der vierten Klasse abbrechen. Weil die Eltern glauben, das reiche aus für ein Mädchen.
    Viele Mädchen müssen die Schule nach der vierten Klasse abbrechen. Weil die Eltern glauben, das reiche aus für ein Mädchen. Foto: Stephan Rumpf

    „Gewalt in der Familie ist das größte Problem bei uns“, bestätigt Dorfpolizist Khann Sambo. Weniger wegen der Historie, den vergangenen Gräueltaten der Roten Khmer, die kaum mehr thematisiert werden in Kambodscha. Sondern weil Gewalt, Ausbeutung und Benachteiligung Teil der Kultur seien.

    In jedem Dorf erzählt man die Schauergeschichten von verschwundenen Mädchen und skrupellosen Fremden, die gut bezahlte Jobs versprechen. Im besten Fall landen die jungen Frauen als Hausmädchen in arabischen Ländern, im schlimmsten Fall in einem Bordell in Bangkok. Etwa 8.000 kambodschanische Mädchen und Frauen, schätzen Experten, verschwinden jedes Jahr im Nachbarland Thailand, verkauft von den Eltern, den Brüdern, den Verwandten.

    Auch der Handel mit Kindern, sagt Polizeichef Khann Sambo, ist ein Problem. Nicht wegen der Ausländer, die ins Land kämen, um sich hier ein Kind zu kaufen. Vielmehr wegen vieler kambodschanischer Eltern, die für ihren Sohn oder die Tochter auf ein besseres Leben im Ausland hoffen – und den Touristen ihren Sproß mitgeben wollen. „Die glauben, alle Ausländer sind gut“, sagt Sambo.

    Vom Tourismus-Boom kommt auf den Dörfern nichts an

    Der Tourismus boomt in Kambodscha, das Land gehört zu den am schnellsten wachsenden Reisezielen in Südostasien. Knapp 900 Hotels und Gästehäuser gibt es inzwischen in der Gegend um Angkor Wat. Riesige, sterile Anlagen, die einfach in die Natur gesetzt wurden – wie das Sokha Siem Reap Resort und Tagungszentrum mit fünf Sternen und 519 Zimmern, das kürzlich eröffnet wurde. Unzählige Baustellen zeigen, dass noch sehr viel mehr Hotelanlagen entstehen.

    Die Investoren kommen vor allem aus China und Korea. Wie auch der größte Teil der Touristen aus Asien stammt, die dann in chinesische, koreanische oder japanische Restaurants einkehren oder in den Casinos ihr Geld lassen, die Investoren aus den jeweiligen Ländern aufmachen.

    Vor allem Schulabbrecher bekommen in der Tourismusbranche eine Chance

    „Wir können den Personalbedarf nicht decken, den die Hotels haben“, sagt Soung Nuoreath. Er ist Jobvermitter am Berufsbildungszentrum in Siem Reap, wo junge Kambodschaner in drei bis sechs Monaten für den Tourismus ausgebildet werden: zu Zimmermädchen, Rezeptionisten, Köchen, Bedienungen oder Elektrikern. Vor allem Schulabbrecher bekommen hier eine Chance – etwa 160 pro Jahr.

    Kheourk Seap ist eine von ihnen. Die 21-Jährige hat die Schule nach der neunten Klasse verlassen. Der Vater ist gestorben, die Mutter konnte die zehn Kinder nicht mehr ernähren. Kheourk Seap half ihr beim Körbeflechten, vier Geschwister arbeiten als Straßenbauarbeiter in Thailand. Jetzt wird Kheourk Seap zur Küchenhelferin ausgebildet. Sie übt, wie man das Nationalgericht Fisch-Amok zubereitet, Wonton Suppe oder auch Spaghetti Carbonara. Alles, was der Tourist im Hotelrestaurant verlangt. Am Schuleingang hängen Zettel mit Stellenausschreibungen. Gesucht werden Konditoren, Masseure, Restaurant-Manager, Gärtner. Die Bezahlung ist gut – 500, 800, gar bis zu 1.200 US-Dollar pro Monat werden geboten, je nach Position. Vorausgesetzt wird gutes Englisch.

    Wie Lehrerin Tort längst festgestellt hat: „Nur wer Englisch kann, hat eine Chance in Kambodscha.“

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